Fundstück im Wühltisch

Das Deutsche Theater bringt »Niemand« von Ödön von Horváth auf die Bühne

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich ein Wunder: 77 Jahre nach dem Tod des Bühnenautors taucht »Niemand« auf. Ein Frühwerk des 23-jährigen Ödön von Horváth. Kein Dachbodenfund, sondern ein Manuskript, das 1924 eingereicht, aber dann vom Verlag »Die Schmiede« unbeachtet blieb. 2006 fanden sich dafür bei einer Auktion kaum Interessenten. Die Tragödie in sieben Bildern ging damals für 250 Euro weg und bekam erst bei einer weiteren Versteigerung vor zwei Jahren die verdiente Aufmerksamkeit.

Der Gesellschaftsreigen aus den zwanziger Jahren spielt im Treppenhaus zwischen Tür und Angel. Die Mieter - Musiker, Huren, Zuhälter und Kellnerinnen - stehen fast alle in der Schuld des Hausherren, dem verkrüppelten Pfandleiher Lehmann, der auf Krücken nicht weiter hinaus kommt als bis ins Treppenhaus. Ein gnadenloser Wucherer, der erst durch die Liebe zur jungen Ursula weich wird.

Die Deutsche Erstaufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters setzt nicht auf Stiegenhaus-Realismus: Vor einer hohen Wand im Fake-Parkett-Look tummeln sich die Figuren ebenerdig im Look der Zwanziger bereits beim Einlass zu Percussion-Beats auf Glockenspiel und Bierflasche. So gut gelaunt könnte die Kellnerin (in allen Rollen hinreißend direkt: Lisa Hrdina) auch in einem Berlin-Mitte-Café bedienen. Ein toller Auftakt - allerdings glaubt man folglich die wirkliche Not der Bewohner nicht mehr so recht. Die Hure Gilda (Franziska Machens) scheint eher Spaß daran zu haben, die ihr halb verhungert ins Haus schneiende Ursula zu managen; schrill und geschmeidig; schnoddrig und süß brieft sie die Neue auf Mitleidsmasche.

Die ersten Lacher gelten nicht Horváth, sondern dem Text Marke Eigenbau: Mach mal ’n bisschen östlicher! Anfangs wirkt das stark, das Weiterspinnen und Spiel um Horváth herum, aber bald schon bleibt der Text ganz hinter der Spielwut zurück. Dann dient er höchstens noch dem Dekor, wenn er per Overheadprojektor an die Wand geworfen wird zum Spiel mit Licht und eigenem Schatten - existenzieller als die Existenzangst der Figur!

Nun ist »Niemand« nicht ganz Horváth, wie man ihn kennt. Wortreich und zuweilen bemüht, expressionistisch und mit viel Pathos, fehlt dem Jugendstück die Präzision der späteren Volksstücke. Dennoch steckt es voller Alltagspoesie, dem genial gesetzten Umgangssprachton, durch den auch Horváths spätere Fräulein in Nöten bestechen, sich vor dem Publikum auf tragikomische Weise selbst demaskieren und wenn - zu spät! - der Groschen gefallen ist, in der Donau oder hinter den Bretterbuden des Oktoberfests landen. Horváth selbst sagte es einmal so: »Das Dramatische liegt bei mir im Dialog, im Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein.« Dies bleibt unter der Regie Dušan David Pařízeks auf der Strecke.

So wie der Szenerie der Treppenhaustopos fehlt, die unheimliche Präsenz der Ver-, Mit- und Untermieter hinter den Türen - und somit das wesentliche Rückgrat, versteigt sich der Dialog zum gemeinsam Monologisieren und was man sonst noch kann: Slapstick, Synchronrülpsen und Iggy Pop. Das Ensemble sitzt eher im erweiterten Wohnzimmer einer Bühnen-WG herum, anstatt sich treppauf und treppab am formbewussten Original zu entzünden, das (inklusive Regieanweisung!) zuweilen interessante Versepik zu bieten hätte - wenn auch anders, als von Horváth erwartet ... Prompt setzt die Dramaturgie lieber auf Altbewährtes: Selbst da, wo der Dialog in skurriler Prägnanz den Nagel auf den Kopf trifft, so im Auftritt des Backfischs, im Pfandhaus auf der Suche nach Erotiklektüre, quetscht sie lieber noch ein Best-of aus Horváths Spätwerk dazu. Die Kellnerin bedient sich an »Glaube, Liebe, Hoffnung«, der Zuhälter am »Kind seiner Zeit«. Das wird weder dem Spät- noch dem Frühwerk gerecht.

Weg fallen dafür Nebenrollen: Handwerker und Polizisten. So platzt die Inszenierung einerseits aus den Ego-Nähten, andererseits fehlt die Bandbreite des Sozialschichtwerks: Die noch Arbeit haben gegen die Arbeitslosen. Fällt aber der Job stattdessen an eine Hauptrolle, weil die werktätige Charge fehlt, kommt man über den ersten Strich kaum hinaus. Zurück bleibt die hippe Szene. Und die müht sich dann eher ab, die durch Strich des Textes verlorene Handlungsinfo in eitel zurechtgequatschtem Hörensagen nachzuliefern. Man weiß es besser, anstatt Teil der Bewusstwerdungsprozesse zu sein. Wozu spielt man das Stück überhaupt? Weil man der Erste sein wollte, der hierzulande »Niemand« spielen lässt? Da taucht ein neues Werk eines der meistgespielten modernen Bühnenklassiker auf, und anstatt entdeckt zu werden, landet die Neuware gleich im Wühltisch.

Erst am Ende, im körperlichen Ringen Lehmanns mit dem heimgekehrten Bruder (Frank Seppeler), der ihm prompt Ursula wegschnappt, geht es unter die Haut. Und wenn dann noch die Wand fällt, hinter der im fahlen Licht bereits eine weitere die letzte Hoffnung begräbt, begreift man wenigstens im Bild das nackte Elend - und endlich auch den Schmerz des Krüppels Lehmann (Marcel Kohler), der bisher recht gestanden das Stück beherrschte, anstatt auf »Kinderbeinchen«. Diese hängen, nachdem er aus der gebrechlichen Einrichtung der Welt gen Hängeboden gerissen wird, über den neuen Liebenden wie ein Damoklesschwert. Die Liebe höret nimmer auf. Im Horváth-Universum ist das ein Fluch und kein Heilsversprechen.

Nächste Vorstellungen: 8., 18., 25. April

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