Die trotzige Vision eines anderen Europas

Von den Euromärschen bis zum Protest gegen TTIP: Was europaweite soziale Bewegungen bewirkt haben

Die EU hat mehr Glück als Verstand: In ihrer größten Krise, in die sie sich selbst gestürzt hat, wird sie von Bürgern auf der Straße verteidigt. Unklar ist, ob die Bewegung Pulse of Europe überhaupt etwas an der EU verändern will, so vage bleiben ihre Ziele. Mit dem Slogan »Ein anderes Europa ist möglich« - die verbindende Formel aller Protestbewegungen der letzten 20 Jahre in Europa - hat »Pulse« jedenfalls nichts am Hut.

»Ein anderes Europa ist möglich« - das war die trotzige Vision des ersten Europäischen Sozialforums in Florenz im Jahr 2002, die Vision eines demokratischen und solidarischen, sozialen und friedlichen Europas, eines Europas der Bürger, nicht der Konzerne. Dieses andere Europa wird seither oft und leidenschaftlich gefordert, doch nur relativ selten in gemeinsamen Aktionen von Spaniern und Schweden, Franzosen und Tschechen, Deutschen und Italienern. Dabei ist ihnen im Grunde klar, dass immer mehr auf EU-Ebene und immer weniger im eigenen Land entschieden wird und dass deshalb auch Protestbewegungen über den nationalen Rahmen hinaus denken müssten. Dennoch: Soziale Bewegungen, die sich auf die Politik der EU beziehen, sind längst nicht so häufig, wie man erwarten würde, angesichts dessen, wie grundsätzlich die Kritik an ihr ist.

Zu den frühen Ausnahmen gehören die Euromärsche gegen Erwerbslosigkeit. 20 Jahre liegen diese jetzt zurück. Sie forderten, die Probleme von 20 Millionen registrierten Erwerbslosen auf die Tagesordnung der kommenden EU-Regierungskonferenz zu setzen. So direkt wurde später nur noch selten versucht, ein eigenes Thema auf die Agenda der EU zu setzen. Von heute aus betrachtet mag die Vorstellung, europäischen Institutionen allein durch Massen auf der Straße Druck zu machen, ziemlich optimistisch erscheinen. In späteren europaweiten Kampagnen ist die Auseinandersetzung mit der EU jedenfalls ausgefeilter: Heute heißt es Akteure identifizieren, Dynamik erzeugen, eine Erzählung entwickeln - und zwar von der lokalen bis zur europäischen Ebene.

Europaweite Mobilisierungen funktionierten in den vergangenen zehn Jahren dann, wenn es galt, Nein zu sagen. Die Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors erzeugte so eine Welle, ebenso wie das internationale Abkommen gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen ACTA, das europaweit die Netzgemeinde auf die Barrikaden rief. Die ACTA-Proteste waren erfolgreich. Das Europäische Parlament lehnte das Vorhaben im Sommer 2012 mit großer Mehrheit ab. Die massive Kritik an der Dienstleistungsliberalisierung setzte die Kommission unter Druck, Bolkestein musste modifiziert werden. Letztlich wurde die Richtlinie aber verabschiedet.

Die Kampagne der Kampagnen auf europäischer Ebene ist bis dato die selbst organisierte Europäische Bürgerinitiative »Stop TTIP«. Weit über drei Millionen Europäerinnen und Europäer unterzeichneten Aufrufe gegen das Freihandelsabkommen mit den USA, das lange Zeit ohne jegliche Öffentlichkeit vorangetrieben worden war. Die noch laufende Kampagne findet koordiniert in zahlreichen europäischen Ländern statt. Sie ist unterfüttert durch die Expertise von spezialisierten NGOs auf europäischer Ebene und verbindet Druck durch Masse mit Lobbying in Brüssel und einer Vielzahl von Aktionen bis hinunter auf die kommunale Ebene. Obwohl die Kommission das europäische Volksbegehren gegen TTIP offiziell nicht zugelassen hat, wurden europaweit Unterschriften dafür gesammelt. Die Entrüstung über die Machtdemonstration aus Brüssel stärkte die Freihandelskritiker derart, dass die Kommission darauf reagieren musste, genauso wie Regierungen und Parteien. Der Vertrag kann nicht länger geheim verhandelt werden, einzelne Elemente wie die skandalöse Sondergerichtsbarkeit für Konzerne mussten abgeschwächt werden. Das zeigt: Die Europäische Bürgerinitiative kann zumindest für große Organisationen ein sinnvolles Instrument sein. Und: Es ist für Protestbewegungen möglich, gemeinsam auf EU-Ebene zu kämpfen. Punktuell lässt sich europäische Politik beeinflussen.

TTIP wäre zu den Hochzeiten der Gipfelproteste der globalisierungskritischen Bewegung und der Europäischen Sozialforen nur ein Thema unter vielen gewesen, denn dort hatte man das große Ganze im Blick. Bei den Sozialforen zwischen 2002 und 2010 ging es nicht darum, ein konkretes Politikfeld zu bearbeiten, sondern die Protestbewegungen in Europa zu bündeln. Zehntausende Menschen verschiedenster Spektren kamen bei diesen Vollversammlungen des anderen Europa zusammen. Der Europabezug blieb jedoch mehr geografisch als programmatisch in diesem riesigen Gemischtwarenladen der gesellschaftlichen Alternativen.

Gleichwohl beflügelten die Sozialforen wichtige Entwicklungen. Organisationen wie Attac und SYRIZA sowie der Parteienverbund Europäische Linke sind hier gewachsen. Die Foren halfen, Netzwerke zu knüpfen, die für spätere Proteste nützlich waren. Enttäuscht wurden jedoch Erwartungen, dass gemeinsame Positionen, eine Choreografie für Kämpfe oder zentrale Aktionstage verbindlich verabredet werden könnten. Mit Ausnahme der Massenproteste gegen den Irakkrieg verpufften solche Verabredungen zumeist.

Deutlich fokussierter agierte nach Ausbruch der europäischen Finanzkrise das antikapitalistische Blockupy-Bündnis gegen die Krisenpolitik der EU, die ganze Länder Südeuropas verarmen lässt. Besonderen Wert legten die Organisatoren in Deutschland auf die Verbindung zu den Protestbewegungen in anderen europäischen Ländern. Lautstarke Blöcke von Franzosen, Italienern und Spaniern bei den Demonstrationen in Frankfurt am Main waren sichtbarer Erfolg dieser transnationalen Vernetzung. Doch trotz länderübergreifender Vorbereitungstreffen und gegenseitiger Referentenbesuche blieben die relevanten Blockupy-Aktionen auf Deutschland beschränkt. Eine europaweite Protestbewegung formierte sich nicht. Als ein Grund gilt, dass die Platzbesetzer in Südeuropa nicht die Troika, sondern ihre nationalen Regierungen als Hauptgegner attackierten.

Mit DiEM25, das der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis initiierte, wurde vor einem Jahr ein neuer Versuch gestartet, die Gegner der neoliberalen Krisenpolitik europaweit zu bündeln. Das Besondere ist, dass DiEM dabei ist, ein konkretes Reformprogramm für die Europäische Union bis zum Jahr 2025 aufzustellen. Ob dieses Projekt mit seinen knapp 60 000 Mitgliedern wirklich einmal die europäische Bewegung sein wird, die es schon heute vorgibt zu sein, ist noch unklar.

Von Bolkestein bis Blockupy: All das waren Abwehrkämpfe gegen weitere neoliberale Auswüchse der EU. Viele andere Weichenstellungen hätten Protest ebenso verdient. Doch soziale Bewegungen leiden unter vergleichsweise bescheidenen personellen und finanziellen Ressourcen. Zugleich sind die Abläufe innerhalb der EU derart undurchsichtig und undemokratisch, dass es schon schwer ist, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Adressaten für eine Protestaktion ausfindig zu machen. Dafür braucht es wenigstens einen starken Partner in Straßburg oder Brüssel.

Was soziale Bewegungen seit den Euromärschen kaum versucht haben ist, eigene Themen in der EU zu setzen. Zum einen ist man dafür zu schwach. Zum anderen ist es leichter, gegen eine bestimmte Politik zu mobilisieren als für einen konkreten Inhalt oder gar institutionelle Reformen der EU. Hinzu kommt: In vielen europäischen Ländern sind in den sozialen Bewegungen Strömungen stark, die der EU grundsätzlich die Existenzberechtigung absprechen.

Ihr Argument: In keinem EU-Land genießt die neoliberale Ideologie in dem Maße Verfassungsrang wie in den Vertragsdokumenten der EU. Langjährige Aktivisten bezweifeln, dass sich die bestehenden Institutionen überhaupt demokratisieren lassen. Sie verweisen auf die ambivalente Bilanz aller Bemühungen: Selbst noch so erfolgreiche Mobilisierungen haben bislang keinen wirklichen Kurswechsel eingeleitet. Und selbst wenn Abkommen wie ACTA zunächst gestoppt wurden, tauchen Bestandteile davon später in anderen Dokumenten wieder auf. Auch TTIP liegt nur auf Eis, beerdigt ist das Vorhaben nicht. Gleichzeitig werden ähnlich problematische Verträge mit Kanada oder Japan weiter voran getrieben.

Zweifel gibt es deshalb, ob sich die Anstrengung wirklich lohnt, länderübergreifende Bewegungen aufzubauen. Vielleicht reicht es doch, das nationalstaatliche Terrain zu bespielen und darüber indirekt etwas in der EU ins Rollen zu bringen? Zugleich diskutieren politische Zirkel aber derzeit darüber, ob die in vielen Ländern ähnlichen Bewegungen - Kämpfe um die Rechte von Geflüchteten, gegen nationalistische Kräfte, gegen Sozialabbau oder TTIP - das Potenzial haben, sich in einer starken transnationalen Bewegung zu bündeln.

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