Mit der Postkutsche durchs Watt

Die Bewohner der Nordseeinsel Neuwerk bekommen Briefe und Pakete je nach Tidenstand zugestellt

  • Janet Binder, Neuwerk
  • Lesedauer: 4 Min.

Über Michael Stobbes Arbeitszeiten entscheidet kein Dienstplan, sondern die Tide. Mehrmals die Woche fährt der Postbote von Cuxhaven mit dem Wattwagen oder dem Schiff auf die zu Hamburg gehörende Nordsee-Insel Neuwerk, um dort Briefe und Pakete zuzustellen. Mal geht es früh morgens los, mal am Nachmittag. »Da muss man flexibel sein«, sagt der 61-Jährige.

An diesem Tag beginnt seine Arbeit am frühen Vormittag. Die Sonne scheint, für die Jahreszeit ist es recht warm. Es ist einer der letzten Tage, an denen Stobbe noch per Kutsche über das Wattenmeer nach Neuwerk fährt - zusammen mit zahlreichen Touristen im Konvoi. Demnächst steuert die MS Flipper wieder die Insel an, dann nimmt Stobbe den bequemen Ausflugsdampfer.

In der kalten Jahreszeit pendeln nur Wattwagen und Trecker zwischen dem Festland und der rund zehn Kilometer entfernten Insel. »Das Erlebnis mit der Kutsche ist natürlich schöner«, sagt Stobbe. Gerade im Winter, wenn er bei aufgehender Sonne mit Kutscher Jan Brütt allein ohne Touristen im Watt unterwegs ist: »Das sind einzigartige Momente«, schwärmt er.

Schon seit über 20 Jahren gibt es auf Neuwerk keine eigene Poststelle mehr, seitdem pendelt ein Zusteller im Winter bis zu drei Mal und im Sommer bis zu sechs Mal die Woche zwischen Insel und Festland. An diesem Tag hat Stobbe eine Kiste mit Briefen sowie elf Pakete dabei.

Vor knapp einem Jahr hat er die Neuwerk-Zustellung von seinem Vorgänger übernommen. Die Insulaner kennt er schon gut. »In der Vor- und Nachsaison haben sie Zeit zum Schnacken«, erzählt Stobbe. Derzeit wohnen auf Neuwerk 33 Menschen, rechnet er nach. »Im Sommer sind es doppelt so viele.« Im Ton seien sie rau, aber herzlich. Mit fast allen ist er per Du. »Nur mit der Lehrerin nicht, sie ist noch neu hier.«

Auf Neuwerk mit der Kutsche angekommen, muss er sich beeilen. Nur 50 Minuten hat er Zeit für seine Runde mit einem gelben, dreirädrigen Elektromofa mit Anhänger. Schließlich müssen die Wattwagen aufbrechen, bevor die Flut das nicht mehr zulässt. Das Schiff bietet in der Regel eine längere Aufenthaltszeit.

Eines der ersten von Stobbe angesteuerten Häuser ist das von Christel Backhaus. Für sie hat er eine Tageszeitung und Lotterie-Lose besorgt. »Freundschaftsdienste« nennt Stobbe seine Gefälligkeiten. Im einzigen Laden auf Neuwerk gibt es viele Dinge nicht zu kaufen. Wer etwas Dringendes braucht, darf deshalb Stobbe anrufen. Er besorgt es dann schnell und zuverlässig. »Das macht man so«, sagt er dazu trocken. Für Christel Backhaus bringt er regelmäßig Lose mit. »Er hat mir schon Glück gebracht«, erzählt die 78-Jährige. Am nächsten Haus stellt Stobbe drei Pakete mit Lebensmitteln vor die Tür. Der Bewohnerin ist nicht da, er schickt ihr eine SMS. »Sie kommt gleich und packt sie weg«, sagt Stobbe. Nebenan geht er durch die Hintertür und legt die Post in die Küche. »Nimmst du meine gleich mit?«, fragt Pensionswirtin Alina Griebel.

Denn Stobbe stellt nicht nur zu, er verkauft auch Briefmarken, nimmt Einschreiben, Briefe und Pakete entgegen. Künftig hat er sogar einen eigenen Poststempel dabei. Bisher wurden die Insel-Sendungen auf dem Festland abgestempelt. Das soll sich nun ändern. Es ist ein Service, den die Post vor allem angesichts der zahlreichen Touristen im Sommer anbietet. Den Bewohnern ist der Stempel weniger wichtig als die Person Michael Stobbe. »Michael kann man immer anrufen«, betont Alina Griebels Mann Steffan.

Stobbe düst weiter. Im Hotel Nige Hus überreicht er der Wirtin ein im Internet bestelltes Paket, in dem LED-Windlichter für die Tische draußen sind. Demnächst lasse sie sich einen Staubsauger und Puschen für die Gästezimmer schicken, sagt Svenja Griebel - der Nachname ist auf der Insel weit verbreitet. »Das muss Michael alles tragen«, sagt sie. Stobbe nimmt das gelassen. »Dafür werde ich im Gegensatz zu meinen Kollegen auf dem Festland immer alle Pakete los«, betont er.

Am Ende seiner Tour wartet Kutscher Jan Brütt mit dem Wattwagen. Seine Kollegen sind schon losgefahren. Wenn Stobbe nach eineinhalb Stunden Fahrt wieder in Cuxhaven ist, muss er noch zum Postamt, um die Sendungen der Insulaner zu bearbeiten. Dann ist Feierabend - es sei denn, sein Handy klingelt und ein Insulaner bittet um eine Besorgung. dpa/nd

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