Werner Berthold

In memoriam

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 2 Min.

»… großhungern und gehorchen« hieß eine der ersten, 1960 erschienenen historiografie- geschichtlichen Untersuchungen in der DDR. Diese am Beispiel der Schriften zweier führender bundesdeutscher Historiker, Gerhard Ritters und Friedrich Meineckes, aus den Jahren vor und nach 1945 vorgenommene kritische Analyse der politischen Funktion von Geschichtsideologie in der Bundesrepublik Deutschland war die Promotionsschrift Werner Bertholds. Bei deren Erscheinen als Buch von der bundesdeutschen Historikerschaft totgeschwiegen oder als Propaganda abgetan, wird sie von der jüngeren Generation heute als zutreffende Kritik gewürdigt.

Davor hatte der künstlerisch begabte Leipziger Arbeitersohn in der Nazizeit in engem Kontakt zu antifaschistischen Widerständlern seiner Heimatstadt gestanden. Nach Militärdienst und französischer Kriegsgefangenschaft studierte er bei Hans Mayer, Walter Markov und Ernst Engelberg an der alma mater lipsiensis Geschichte und Philosophie, war Hilfsassistent bei Ernst Bloch und hatte manchen Ärger mit der Partei. Seine 1970 publizierte Habilitationsschrift galt der Entwicklung eines neuen demokratischen Geschichtsbildes durch die antifaschistische Volksfront in der Emigration. Kurz danach gründete und leitete der Geschichtsprofessor bis zur Emeritierung 1988 an der Leipziger Universität den ersten deutschen Lehrstuhl zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, der bis heute der einzige geblieben ist. Westdeutsche Evaluatoren schlossen ihn 1991 umgehend, weil von der Hochschulstruktur der Bundesrepublik abweichend.

Sein gesamtes Wissenschaftlerleben hat Werner Berthold der Erschließung und historisch-materialistischen Deutung des reichhaltigen historiografiegeschichtlichen Erbes gewidmet. Seiner Feder entstammen mehrere Bücher, darunter ein 1989/90 erschienener zweibändiger marxistischer Abriss der Geschichte der Geschichtswissenschaft, mit dem er Studenten und historisch interessierten Lesern die Geschichte der internationalen und deutschen Historiografie von der Antike bis in unsere Tage nahebrachte. Für eben diesen Leserkreis vermittelte er über drei Jahre gemeinsam mit Mario Kessler in einer Serie an dieser Stelle im »nd« unter dem Titel »Klios Jünger« sein fundamentales Wissen über die internationale Geschichtsschreibung: 100 Historikerporträts von Homer bis Walter Markov und Eric Hobsbawm, die danach als Buch erschienen. Im Ruhestand arbeitete er unverdrossen weiter an Studien zur Fortschrittsproblematik in der Geschichte, analysierte die aktuelle Situation in der Geschichtswissenschaft und setzte sich kritisch mit der rigorosen Abwicklung der DDR-Historiographie auseinander. Bis zuletzt schrieb er an seinen Erinnerungen,die er nicht mehr abschließen konnte. Er starb am 8. April 93-jährig in Leipzig.

Walter Schmidt

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