»Nordirland braucht einen Sonderstatus in der EU«

Helmut Scholz zu den Leerstellen im Brexit-Fahrplan der Europäischen Union

  • Lesedauer: 4 Min.

Großbritannien hat Ende März offiziell den Austritt aus der EU erklärt. Wie geht es weiter?
Das Prozedere ist im Artikel 50 des EU-Vertrags eindeutig geregelt. Nachdem das offizielle Austrittsschreiben aus London nun vorliegt, werden die EU-Gremien ihre Verhandlungslinie festlegen. So werden auf dem Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs am 29. April die entsprechenden Leitlinien festgelegt. Darauf basierend wird die EU-Kommission den Start der Verhandlungen und ein Verhandlungsmandat vorlegen. Dieses Mandat muss dann wiederum vom Rat, dem Gremium der Regierungen, bestätigt werden. Das wäre dann der offizielle Auftrag für das Verhandlungsteam, das vom früheren EU-Kommissar Michel Barnier geleitet wird. Bis etwa Oktober 2018 sollen die eigentlichen Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreiches und über Übergangsregelungen abgeschlossen sein. Danach muss das Austrittsabkommen vom Europaparlament gebilligt und von den EU-Mitgliedsländern angenommen werden. Insgesamt darf der gesamte Prozess nicht länger als zwei Jahre dauern.

Das Europäische Parlament hatte Anfang April Bedingungen für die Brexit-Verhandlungen beschlossen. Welche?
Dabei handelt es sich vor allem um basics wie Transparenz der Gespräche, Ablehnung von Rosinenpickerei, punktuellen Wirtschaftsbeziehungen oder der Einschränkung der Personenfreizügigkeit, die sich nach den Vorstellungen von London vor allem gegen »unbeliebte« Ausländer oder Migranten richten sollte. Ausdrücklich verlangt das Europäische Parlament dagegen, dass die Interessen der Bürger von Anfang an im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen müssen – eine Forderung, die gerade auch die Linksfraktion immer wieder erhoben hat.

Helmut Scholz

Helmut Scholz ist Europaabgeordneter der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken und Mitglied in den Ausschüssen für konstitutionelle Fragen und internationalen Handel. Mit ihm sprach für „nd“ Uwe Sattler.

Der Brexit wirft die Frage zur künftigen Stellung Irlands und Nordirlands auf, deren Verflechtungen untereinander und die Beziehungen zum britischen »Kernland«. Sie fordern, dass die irische Bevölkerung nicht zu Verlierern des Londoner EU-Austritts werden darf. Ist diese Gefahr real?
Diese Gefahr ist sehr real. Noch vor knapp zwei Jahrzehnten war die irische Insel von blutiger Gewalt gezeichnet. Die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingeleitete Befriedung des Nordirlandkonflikts ist aufs Engste mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung auf der irischen Insel verknüpft. Den Rahmen dafür hat nicht zuletzt die EU geschaffen, denn sie ermöglichte es, dass beide Teile der irischen Insel zusammenwachsen konnten, ohne als Voraussetzung hierfür die offene nationale Frage lösen zu müssen. Mit dem Brexit würde Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs ebenfalls aus der EU ausscheiden. Es gäbe also faktisch erneut eine Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsstaat Irland und dem Landesnorden. Erneut eine Grenze zu bekommen, bedeutet die Wiedereröffnung mindestens der 277 ehemals offiziellen Grenzübergänge zwischen Irland und dem Norden, durch die sich dann, werden die Handelsströme nicht unterbrochen, täglich bis zu 25.000 Grenzgänger zur Arbeit quälen müssen. Spricht man mit den Menschen vor Ort, wird immer wieder betont, dass Grenzen, die wieder durch Dörfer, Höfe und Familien gehen, dass Kontroll- und Zollstellen für sie unvorstellbar sind. Und noch ein anderes Beispiel: Bei der Versorgung von meizinischen Notfällen werden die Patienten jeweils ins irische Dublin oder in das nordirische Dublin gebracht, dorthin, wo es medizinisch am sinnvollsten ist, und das unabhängig von der Frage, kommt der Patient aus dem Nord- oder Südteil der der Insel. Bei alltäglichen Sozialleistungen wie z.B. der Kindergartenbetreuung spielt in der Nähe der ehemaligen Grenze der Landesteil, aus welchem das Kind kommt, so gut wie keine Rolle mehr.

Welche Alternative gibt es?
In der bereits angeführten Resolution des Europaparlaments ist ganz klar festgeschrieben, dass am Friedensprozess auf der irischen Insel festzuhalten ist und eine »harte« Grenze verhindert werden muss. Den besonderen Umständen des Friedensprozesses solle daher in dem Austrittsabkommen »vorrangig Rechnung getragen werden«.

Was heißt das konkret?
Dazu wäre es nach meiner Meinung wichtig, ein spezielles Komitee einzurichten, das sich kontinuierlich mit den Auswirkungen der verschiedenen Verhandlungspunkte auf den Konflikt auf der irischen Insel beschäftigt. Schließlich sind die Konsequenzen des Brexit in ihren Details noch nicht vollständig zu überschauen. Auch eine Arbeitsgruppe aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europaparlaments wäre sicher sinnvoll, um diese Frage zu erörtern. Ich glaube zudem, dass es sinnvoll wäre, Nordirland einen Sonderstatus in der EU zu geben, um die auch seitens der EU mit dem Karfreitags-Abkommen eingegangenen Verpflichtungen für den Friedensprozess in Nordirland einzuhalten und zugleich die in den vergangenen Jahren geknüpften Beziehungen über die Landesgrenze hinweg zu erhalten.

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