Die neue Theologie
Jürgen Amendt über das Primat der Ökonomen im Bereich Forschung und Innovation
Die Natur, schrieb der Philosoph Karl Marx in einem seiner Frühwerke, »ist der unorganische Leib des Menschen« und das »physische und geistige Leben des Menschen« hänge mit der Natur zusammen. Dieses Verhältnis zwischen Mensch und Natur habe keinen anderen Sinn als jenen, »daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist Teil der Natur«.
Wissenschaft und Forschung sind demzufolge quasi gewandeltes und durch Gesellschaft bzw. Zivilisation vermitteltes Naturverhältnis. Und so, wie Natur nur als Ganzes existiert und niemals nur als einzelnes Phänomen, kann auch menschliche Wissenschaft nicht auf einen Teilbereich beschränkt werden. Von daher rührt auch der Gedanke, dass universitäre Ausbildung mehr sein muss als das Studieren eines Faches, einer Disziplin, einer Wissenschaft. In den höheren Schulen des Mittelalters wurde dieser Gedanke einer umfassenden Bildung als »Studium generale« bezeichnet.
Dieser »Blick über den Tellerrand« war noch vor einigen Jahrzehnten Bestandteil der universitären Ausbildung in Deutschland; heute gibt es nur noch wenige Universitäten, die entsprechende Lehrveranstaltungen anbieten, und an noch weniger Hochschulen ist die Teilnahme an solchen Seminaren bzw. Vorlesungen verpflichtend. Der eng getaktete Lehrplan gesteht Studienanfängern kaum noch zu, Lehrveranstaltungen außerhalb des gewählten Studienfaches zu belegen.
Die Folge sind nicht nur zum Teil isoliert voneinander lehrende und forschende Wissenschaftsdisziplinen; die ganze Symmetrie des Wissenschaftsbetriebs hat sich verändert. An der Spitze stehen heute die Wirtschaftswissenschaften und ihre meist neoliberal geprägte Lehre. Die Wirtschaftswissenschaften sind quasi die Nachfolger der Theologie, die im Mittelalter die Wissenschaft der Wissenschaft war. Dass im Vorstand des Expertengremiums, das die Politik im Bereich Forschung und Innovation beraten soll, ausschließlich Wirtschaftswissenschaftler sitzen, ist die traurige Konsequenz dieser Entwicklung.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.