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Skandalisierung?

Georg Cremer übt Kollegenschelte

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Generalsekretär der Caritas, Georg Cremer, kritisiert eine »rituelle Empörung«. Nach steilem Anstieg verharre die Armut seit 2005 auf weitgehend konstantem Niveau. In der Statistik würden auch Studierende und Auszubildende mitgezählt, deren Einkommen nur vorübergehend niedrig sei. »Die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf, sondern stumpfen ab«, meint er. Das schade den wirklich Bedürftigen. Cremers Aussagen sind eine Art Kollegenschelte. Sie zielen vor allem auf Ulrich Schneider, den Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der sich als Experte zum Thema profiliert hat und gerade wegen seiner »klaren Kante« auch häufig in Talkshows sitzt. Der Paritätische veröffentlicht regelmäßig seinen Armutsbericht, der dokumentiert, wie sich die soziale Schieflage in Deutschland zuspitzt.

Der habilitierte Volkswirt Cremer hat lange in Asien gelebt und dort Entwicklungsprojekte geleitet. Er prangert den »Niedergangsdiskurs« an und stellt den Begriff der »relativen Armut« in Frage: Bedürftigkeit hierzulande sei etwas völlig anderes als in Kalkutta. Dies aber bestreiten seine Kontrahenten gar nicht. Schneider wie auch der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge verteidigen das übliche Berechnungsprinzip. Es beruht auf einer Definition der EU, die das Armutsrisiko bei 60 Prozent des Durchschnittseinkommens festgesetzt hat. Wer darunter liegt, muss in Deutschland zwar nicht hungern, sehr wohl aber sind Möglichkeiten sozialer Teilhabe erschwert.

Cremers Vorwürfe einer »anwaltschaftlich gemeinten Untergangsrhetorik« werden von konservativen Medien und interessierten Kreisen, die das Problem herunterspielen wollen, dankbar aufgegriffen. Neben wirtschaftsliberalen Journalisten, arbeitgebernahen Forschern und CDU-Politikern zeigte sich auch Arbeitsministerin Andrea Nahles empfänglich. Die Sozialdemokratin, in deren Ressort das Thema Armut fällt, ärgert sich, dass »negative Botschaften« die ökonomischen Erfolge der Bundesregierung »in Misskredit bringen«.

Cremers Kritiker sehen durchaus die Schwächen der gängigen Erhebungsmethode, bezweifeln aber, dass dadurch völlig falsche Ergebnisse zustande kommen. Das Argument, junge Leute in der Ausbildung verfügten nur in einer Übergangsphase über wenig Geld, kontern sie mit dem Hinweis, dass rund eine Million Menschen gar nicht erst erfasst werden. Zu dieser Gruppe zählen etwa Obdachlose, Strafgefangene, Geflüchtete in Sammelunterkünften und teilweise auch Pflegeheimbewohner.

Irritierend auch, wie wohlwollend Cremer in der Rückschau Hartz IV bilanziert und in bekannter Lesart als wichtigen Faktor für den Aufschwung der deutschen Wirtschaft feiert. Trotzdem teilt er mit seinen Kontrahenten die Einschätzung, dass Armut und soziale Ausgrenzung stärker bekämpft werden müssen. Aber wie? Davon ist in Cremers Buch zu wenig die Rede.

Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? Verlag C.H. Beck. 272 S., br., 16,95 €.

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