Die Wunde ist immer noch offen

Vor dem Kölner NSU-Tribunal ist die Rechtsterroristin Beate Zschäpe nur eine von fast 100 Angeklagten

»... kommen … pstraße« - die ausgeschaltete Leuchtschrift über der belebten, aber gar nicht hektischen Straße ist nur noch zur Hälfte vorhanden. Hochzeitskleider, prächtige Torten zu allen erdenklichen Anlässen, Schmuck und viel Glitzerndes für die Wohnungsdekoration kann man dort kaufen, Restaurants und Imbissstuben laden ein. »Türkisch/Deutsch sprechende Verkäuferin gesucht« steht an einem Laden. Am Haus mit der Nummer 29 weist nur ein Schild über der Eingangstür auf den Friseursalon von Hasan und Özcan Yildirim hin, vor dem am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe explodierte, die nur durch ein Wunder niemanden tötete.

Damals arbeitete Ayfer Şentürk Demir in der Keupstraße in Köln-Mülheim. »Als die Bombe hochging«, beschreibt sie im Videointerview, sei sie »durch den Druck gegen die Wand geknallt«. Dass die Ursache eine Bombe sein könnte, hätte sie im ersten Moment nicht vermutet. »Da denkt man ja gar nicht dran.« Draußen habe es ausgesehen wie auf einem Schlachtfeld. »Wie im Krieg.« 22 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. »Von dem Tag an war Deutschland nicht mehr das, was es vorher für mich war«, sagt Mitat Özdemir, der die Initiative »Keupstraße ist überall« mit gründete.

Nach dem versuchten Massenmord in der überwiegend von türkischstämmigen Kölnern bewohnten Straße durchsuchte die Polizei noch am gleichen Tag die Wohnungen derer, die sie für verdächtig hielt. Der »Kölner Stadtanzeiger« fragte am 12. Juni: »War es ein Racheakt, ein Streit im Drogenmilieu oder die Tat eines wirren Einzeltäters?« Was Özcan Yildirim beim NSU-Tribunal die Phase der Verdächtigungen nennt, dauerte sieben lange Jahre, bis aufgedeckt wurde, dass die rechte Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) den Anschlag aus rassistischen Motiven verübt hatte. Danach, erzählt Yildirim, habe sich zunächst Erleichterung eingestellt. Doch auch in der zweiten Phase ab 2011 sei das Vertrauen in den Staat erschüttert geblieben, der kein Interesse daran zeige, das Geschehene vollständig aufzuklären. Gerade das sei schwer zu ertragen. »Die Wunde in uns wurde nie geschlossen, sie kann nie geschlossen werden, sie ist immer noch offen«, sagt Yildirim, der die Öffentlichkeit deshalb eigentlich meidet und mit seinem Friseursalon auf die Rückseite des Hauses Keupstraße 29 gezogen ist. Beim NSU-Tribunal zu sprechen, war für ihn - wie für einige andere - ein großer Schritt.

Auch bei Osman Taşköprü, dem Bruder des 2001 in Hamburg-Altona ermordeten Süleyman Taşköprü, ist Vertrauen spürbar für immer verloren gegangen. Sein Vater war Oliven holen, als der Bruder von den Neonazis regelrecht hingerichtet wurde. Der Vater und er selbst wurden lange vernommen, beobachtet, es wurden DNA-Proben genommen, das Telefon abgehört, die Bankdaten überwacht, »anstatt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren«, nämlich die Mörder zu finden. »Wer weiß, ob die heute noch abhören«, sagt er im Video für das Tribunal. Da könne man sich nicht so sicher sein.

Alle Anstrengung, so scheint es im Nachhinein, wurde bei der NSU-Mordserie darauf verwendet, die Wahrheit nicht ans Licht kommen zu lassen. Schauspieler tragen das bittere Schauspiel vor, das nichts anderes ist als ein Auszug aus dem realen Geschehen: Wie schon nach den ersten beiden Morden nach zwei schlanken, deutsch aussehenden Radfahrern gesucht wurde, aber nur, weil man sie für Zeugen hielt. Wie eine Zeugin des Mordes in Nürnberg die Täter auf Kameraaufnahmen aus Köln erkannte, aber dies nur als vage Vermutung ins Protokoll einging, was sich der zuständige Kriminalhauptkommissar später nicht erklären konnte. Dass eine Zeugin die Täter als »nordische Typen« beschrieben hatte, aber ausschließlich Fotos von Türken vorgelegt bekam. Dass die Vermutungen der Betroffenen, es könnten Rassisten oder Nazis hinter den Morden stecken, systematisch überhört wurden und stattdessen eine »geschlossene Gesellschaft« von integrationsunwilligen Zuwanderern fantasiert wurde, »die für Deutsche nicht zugänglich ist«. Dass es Ansätze gab, die Ermittlungen verschiedener Behörden und Bundesländer zusammenzuführen, was dann nicht geschah, mit der Begründung, es sei zwar die gleiche Tatwaffe zum Einsatz gekommen, jedoch sei nicht klar, ob es sich auch um den gleichen Täter handelte.

Wo dieses absurde Stück aufgeführt wird, Workshops, Diskussionsrunden und das Tribunal stattfinden und neben den Räumen des Schauspiels Köln heutzutage »hochwertige Lofts mit historischem Industrie-Ambiente« zu finden sind, war früher eine Kabelfabrik mit weit über 20 000 Beschäftigten. Unzählige von ihnen wurden als so genannte Gastarbeiter angeworben, die sich unter anderem in der Keupstraße gleich um die Ecke ansiedelten. Schülerinnen und Schüler aus Mülheim entwickelten einen kritischen Stadtspaziergang, der auch die Orte des Schauspiels und des Nagelbombenanschlags verbindet. Spontan haben sie die Runde um eine Station in der Keupstraße erweitert, wo zwei »Stolpersteine« auf dem Bürgersteig an Überfälle auf Juden in der NS-Zeit erinnern. Es ist nur eines von vielen Beispielen, wie bei der Veranstaltung immer wieder auf rassistische Traditionslinien hingewiesen wird, vom Nationalsozialismus über die Behandlung der Arbeitsmigranten, die Morde und Hetzjagden nach der Wiedervereinigung bis zu den jüngsten Angriffen auf Geflüchtete.

Dass jedoch eine Organisation von Neonazis zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor den Augen der Öffentlichkeit in Deutschland ihren »Rassenkrieg« führen könnte, erkannten selbst Linke und Antifaschisten, die sich ausgiebig mit Nazistrukturen beschäftigten, nicht. »Da muss man sich schämen«, meint eine Teilnehmerin. »Wir haben unseren eigenen Warnungen nicht getraut«, erklärt Friedrich Burschel, der mit der Initiative NSU-Watch den Prozess in München verfolgt, selbstkritisch. Selbst nach den Demonstrationen 2006 in Kassel und Dortmund, bei denen Angehörige der Ermordeten Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat den Zusammenhang unter dem Motto »Kein 10. Opfer« glasklar herstellten, habe es »nochmal fünf Jahre gedauert, bis sich der ganze Irrsinn vor unsere Füße ergossen hat«.

»Es ist kein Zufall, dass wir das nicht erkannt haben. Wir sind natürlich genauso Teil dieser Gesellschaft, die mit Rassismus durchsetzt ist«, sagt Daniel Poštrak von der Initiative »Keupstraße ist überall«. »Aber es gibt ein Instrumentarium, das wir gemeinsam produktiv nutzen können, das wir gemeinsam im Dienste eines Antirassismus in Stellung bringen können. Und das ist das Wissen der Betroffenen.« Die hätten schließlich nicht bloß »aus einem Bauchgefühl heraus« die richtigen Täter benannt, sondern die Analyse mitgeliefert und genau beschrieben, was die Mordopfer verband: »Sie waren Migranten, aber nicht nur das. Sie waren Kleinunternehmer, die sich hier eine ökonomische Existenz aufgebaut und damit symbolisch gezeigt haben: Wir sind hier, wir bleiben hier, wir sind ein Teil dieser Gesellschaft.«

Jenes Wissen der Betroffenen, aber auch journalistische Recherchen, Medienanalysen, Protokolle und Recherchen von NSU-Watch, antifaschistische Recherchen, Ermittlungen der Nebenklage im NSU-Prozess sowie Protokolle und Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse haben für die Organisatoren des Tribunals einen »NSU-Komplex« erkennen lassen, der ganze Dimensionen über die fünf Personen, die in München vor Gericht stehen, hinausgeht. Allein 90 namentlich genannte Einzelpersonen führen sie in ihrer Anklageschrift auf, darunter Unterstützer der Neonazis, V-Leute, Verfassungsschützer, Polizisten, Staatsanwälte, Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und ideologische Vordenker der Mörder, und weiterhin Verantwortliche in den Städten, »die den Angehörigen der Mordopfer eine von ihnen gewünschte Form des Gedenkens verweigern«, oder die Bundesrepublik »für die Verweigerung von Gerechtigkeit und von angemessener materieller Entschädigung für die Opfer des NSU-Komplexes«.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird nicht nur für ihre leeren Versprechen »lückenloser Aufklärung« angeklagt, sondern bereits in ihrer Funktion als Jugendministerin der Jahre 1991 bis 1994 dafür, »mit ihrem Programm der akzeptierenden Jugendsozialarbeit systematisch Neonazi-Netzwerke verharmlost, gestärkt und mit ermöglicht zu haben, die teilweise auch dem späteren NSU-Netzwerk zuzurechnen sind«. So bekam etwa der »Winzerclub« in Jena Fördergeld, den Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt besuchten.

Dass die in die Form einer Anklageschrift gebrachte Kritik trotz der Materialfülle »kein Schlusspunkt« sein kann und darf, ist den VerfasserInnen klar. »Wir fordern die Öffentlichkeit auf, diese Anklage fortzuschreiben, für weitere Aufklärung einzustehen und Forderungen zu formulieren. Unsere Anklage ist in diesem Sinne nicht juristisch, sondern politisch zu verstehen. Sie ist eine notwendige Intervention, die von Vielen getragen werden muss. Unsere Anklage gehört euch.«

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