Kein Grund zu bleiben

Schwerste Lebensbedingungen für Millionen Geflüchtete in der Türkei

  • Michael Bonvalot, Izmir
  • Lesedauer: 3 Min.

»Immer noch versuchen jeden Tag an diesem kleinen Küstenabschnitt ein bis zwei Boote die Fahrt über das Meer nach Chios«, erzählt der türkische Flüchtlingsaktivist Ali Güray Yalvaçli. Hier in Çesme, dem noblen Badeort der Oberschicht aus Izmir, unterstützen Yalvaçli und seine »Imece Inisiyatifi« (Initiative Solidarität) Flüchtlinge genauso wie arme Einheimische.

Rund 200 000 geflüchtete Menschen leben allein im Großraum Izmir. In der gesamten Türkei sind es mehrere Millionen. Genaue Zahlen kennt niemand. An dieser Küste wirken die griechischen Inseln in der Ägäis ganz nah und sind von vielen Stellen aus gut zu sehen. Der Weg über das Meer scheint möglich. Doch gefährliche Strömungen und hohe See machen die Überfahrt lebensgefährlich. »Erst vor wenigen Wochen sind wieder Leichen angespült worden«, berichtet Yalvaçli. Und die Menschen müssen schnell sein: »Hier patrouillieren griechische Küstenwache, die EU-Grenzschützer von Frontex, NATO-Kriegsschiffe, aber auch türkische Verbände auf der Suche nach Flüchtlingen.«

Doch die Lebensbedingungen in der Türkei lassen viele Menschen weiter an Flucht in die Europäische Union denken. »Viele Menschen müssen in Zeltstädten ohne Strom ohne fließendes Wasser leben. Oft kommt die Polizei und droht mit Vertreibung«, erzählt Berit, eine deutsche Freiwillige bei der Organisation Imece Inisiyatifi. »Andere machen Feldarbeit im Austausch für eine feste Unterkunft. Für diese Menschen ist die Lage etwas entspannter, aber natürlich immer noch sehr schwierig«, so die Aktivistin. Viele geflüchtete Frauen prostituieren sich, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Auch dabei werden sie noch diskriminiert. »Eine türkische Prostituierte bekommt aktuell rund 100 Lira (rund 25 Euro) pro Nacht. Eine Syrerin vielleicht 25 Lira«, erzählt Berit.

Allein die Initiative aus Çesme betreut nach eigenen Angaben im Großraum Izmir rund 10 000 Menschen im Monat. »Wir fahren fünf Tage die Woche jeden Tag in ein anderes Camp. Es sind fast ausschließlich Familien, die hier leben und die wir unterstützen«, erzählt Berit. Es geht dabei um absolute Grundversorgung: »Wir bringen Essen, Hygieneartikel, Babymilch, Windeln oder Kleidung«, so Yalvaçli. »Denn hier an der Küste gibt es ausschließlich informelle Lager. Offizielle Camps duldet die türkische Regierung nur in der Nähe der syrischen Grenze.« Die AktivistInnen müssen bei ihrer Arbeit vorsichtig sein, die Lage in der Türkei ist explosiv. »Es herrscht Ausnahmezustand, es kann jederzeit alles passieren. Es kann jederzeit jemand reinkommen und sagen, ihr dürft nicht mehr arbeiten. Oder wir werden verhaftet«, erzählt Yalvaçli. Andere Flüchtlingshelfer teilen diese Einschätzung.

In der türkischen Hafenstadt Dikili, gegenüber der griechischen Insel Lesbos, treffe ich Hassan*. »Ich bleibe lieber unterm Radar, alle sind vorsichtiger geworden«. Er führt mich zu einem anonymen Küstenabschnitt, überall treibt Kleidung im Wasser. Am Strand Spuren der Abfahrt, etwa Verpackungen von Schlauchbooten. Diese Spuren sind ganz frisch. Offensichtlich haben hier erst vor sehr kurzer Zeit Menschen die Überfahrt nach Griechenland versucht. Lesbos ist nur wenige Kilometer entfernt, doch Hassan erzählt: »Das Meer wirkt zwar ruhig. Aber hier kentern regelmäßig Boote und die Menschen ertrinken.«

Doch auch, wer es nach Griechenland schafft, hat nur wenig gewonnen. Die Balkanroute Richtung Österreich und Deutschland ist dicht, die Menschen stecken in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln fest. Flüchtlingshelfer Ali Güray Yalvaçli hat eine klare Meinung: »Jeder Mensch hat das Recht, sich frei zu bewegen. Alle Grenzen sollten offen sein.« *Name geändert

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