Wie es leuchtet

»Sehnsucht und Obsession«. Eine Ausstellung zu Jürgen Lutzens in Brandenburg an der Havel

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Wann darf man ein Leben, zumal das eines Künstlers, erfüllt nennen? Das Werk Jürgen Lutzens’ ist schmal. Das Stadtmuseum im Frey-Haus in Brandenburg an der Havel zeigt es zu dessen 75. Geburtstag. Seine Zeichnungen und die wenigen erhaltenen Gemälde offenbaren ein ungewöhnliches Talent. Dennoch: Hier kam jemand nicht recht zum Zuge, der dazu bestimmt schien, ein umfangreiches Werk zu schaffen.

Ein Dutzend Ölbilder, eine Reihe von Zeichnungen, oft mit Bleistift, Kunstkohle oder Kugelschreiber auf Papier. Bereits »Havellandschaft« von 1966 sprengt jeden Naturalismus: Die Formen suchen sich ihre Farben, die Gegenstände begeben sich an einen Platz im Raum, den ihnen der Maler bestimmt. Das ist mehr als nur mutig, es ist übermütig.

Neben den Bildern sind es Briefe, die gezeigt werden. Sie nahmen oft weite Wege und zeugen von Kontaktversuchen zu den Großen in Kunst und Literatur, von Max Frisch bis Karl Schmidt-Rottluff, von Gerhard Altenbourg bis Hans Egon Holthusen, die ihm antworteten. Das meiste davon jedoch: zerstreut, verloren.

Was ist hier passiert, wer hat Schuld an der reduzierten Gestalt eines so vielversprechenden Anfangs? Sind es die Umstände, die immer hinderlich waren, stand sich da jemand selbst im Wege, war es schlicht der Mangel an Glück, um nicht gleich von Schicksal zu sprechen? Oder ist dies gar die zum Menschen Jürgen Lutzens letztlich doch passende Form von Selbstausdruck? Denn vielleicht liegt in der Beschränkung eine Poesie verborgen, die ein umfassend sich realisierendes Werk verlöre?

Lutzens, 1941 in Brandenburg an der Havel geboren, lernt Gebrauchswerber, will Kunst studieren, aber ihm fehlt das Abitur. 1965 geht er zu Willi Sitte nach Halle, der ihn privat unterrichtet. Es war die Zeit, da die Großen der Zunft offen waren für derartige Experimente. Wolfgang Mattheuer schreibt dem jungen Mann: »Gegen Ihre Malerei ist nichts einzuwenden.« Und Gerhard Altenbourg muntert ihn auf: »Ich empfand Ihre Arbeiten als wesentlich.«

Dennoch, der Schritt in den Verband bildender Künstler, eine Bedingung für den Beruf des Künstlers in der DDR, wird ihm versagt, er arbeitet weiter als Gebrauchsgrafiker, vor allem für die Leipziger Messe - malt und korrespondiert. 1972 überfällt ihn ein Nervenleiden, das die künstlerische Arbeit lange unmöglich macht. Dennoch, Lutzens wohnt in Brandenburg in einer repräsentativen Altbauwohnung, sammelt Bücher und Kunstwerke - empfängt Besucher. Geld ist in der DDR nicht wichtig, um wesentlich zu sein. 1985 wird er endlich Kandidat des Künstlerverbandes, aber 1988 wird seine Aufnahme endgültig abgelehnt. Perfide muss man dies nennen, angesichts der Werke, die überdauerten.

Vieles zerstört Lutzens nun im Selbstbeschädigungsfuror, hört demonstrativ auf zu malen, zerstreut lang Gesammeltes. Zur Wende ist er Ende vierzig, ein schlechtes Alter für einen Neuanfang. Als Erstes verliert er 1990 seine große Atelierwohnung, bekommt 2008 Krebs. Nun ehrt ihn seine Geburtsstadt, die er gelegentlich als zu eng erlebte und der er dennoch treu blieb mit einer Ausstellung, aus der eine Zugewandtheit und Sorgsamkeit spricht, die berührt.

Denn diese Ausstellung präsentiert Fragmente eines Lebens zwischen »Sehnsucht und Obsession«. So scheint mir, wird sie dem poetischen Grundgestus des Daseins Lutzens gerecht. Und einige der Bilder dieses großen Unbekannten, der in vielem an Albert Ebert denken lässt, faszinieren nicht nur durch technische Meisterschaft, auch durch jenen besonderen, fast märchenhaften Blick auf die Welt - und das sind für ihn vor allem die Frauen, die er durch ein winziges Verrücken der Perspektive in surreale Szenerien stellt. Es sind auf Distanz gebrachte Verklärungen wie »Des Abends« von 1983. Der Rücken einer Frau wölbt sich wie ein Monument der Nacht dem Betrachter entgegen. Die Haut schimmert milchig in einem Licht, das nicht allein von der schmalen Mondsichel kommen kann, die auf Lutzens Bildern nie fehlt. Bei ihm leuchten die Farben von innen, wie in »Grüner Torso« (1983) und »Grüne Versuchung« (1984).

Am liebsten ist mir das Bild »Das Leben fliegt uns voraus« von 1984, wie so oft bei Lutzens Öl auf Hartfaser und als unvollendet betitelt. Eine Frau vor bleigrauem Himmel, in einen dunklen Mantel gehüllt wie eine Statue im Wind, aber das Flattern ihres gelben Hutbandes widerlegt die übermächtige Novemberszenerie.

So zeugt diese Ausstellung vom beharrlichen Dennoch eines schöpferischen Menschen. Wir haben die Bilder, die wenigen, die unverwechselbaren. Wir werden sehend Teil des poetischen Prinzips.

»Sehnsucht und Obsession in Bildern und Briefschaften Jürgen Lutzens« ist noch bis zum 11. Juni 2017 im Stadtmuseum im Frey-Haus in Brandenburg an Havel zu sehen, Di - So., 13 - 17 Uhr

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