Ein Jahrzehnt Reallohnverluste

Großbritannien erlebt eine Einkommenskrise – im Wahlkampf spielte das zuletzt eine untergeordnete Rolle

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn schon der oberste Banker des Landes von einer Einkommenskrise spricht, dann muss es ernst sein. Mark Carney, Gouverneur der Bank of England, hatte Ende letzten Jahres in einer viel beachteten Rede in Liverpool von einem »verlorenen Jahrzehnt« für die Mehrheit der britischen Haushalte gesprochen. Denn im vergangenen Jahrzehnt seien, so Carney, die Einkommen so langsam gewachsen wie zuletzt Mitte des 19. Jahrhunderts.

Zusammenfassen lässt sich die Krise der Einkommen folgendermaßen: Die Nominallöhne sind nur leicht gewachsen, gleichzeitig steigen die Lebenshaltungskosten. Laut einer Erhebung des britische Gewerkschaftsbundes Trades Union Congress (TUC) sind in Großbritannien daher die Reallöhne zwischen 2007 und 2015 um 10,4 Prozent gefallen. Damit steht die drittgrößte Volkswirtschaft Europas so schlecht da wie kein anderes OECD-Land – mit Ausnahme vom krisengebeutelten Griechenland. Im ersten Quartal 2017 lag die Lohnentwicklung bereinigt um die inflationsbedingten Preissteigerungen bei Minus 0,2 Prozent.

Der jährlich von der nicht-staatlichen Living Wage Foundation erhobene existenzsichernde Lohnbetrag – gemeint ist der Stundenlohn, den ein Lohnabhängiger verdienen müsste, um seinen Lebensstandard halten zu können – steigt seit Jahren kontinuierlich. Zwar steigt auch der gesetzliche Mindestlohn seit der Einführung unter Tony Blair im Jahr 1998, nicht aber so schnell wie die Lebenshaltungskosten. Im Wahlkampf hatte Theresa May eine Erhöhung des Mindestlohns auf 9 Pfund bis 2020 in Aussicht gestellt – allerdings nur für Beschäftigte, die älter als 25 Jahre sind. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte dagegen einen Mindestlohn von zehn Pfund für alle Arbeitnehmer. In London wäre laut »Living Wage Foundation« bereits jetzt ein Mindestlohn von 9,15 Pfund nötig, um mit den steigenden Preisen Schritt halten zu können.

Auch die Bezieher von Sozialleistungen sind angesichts der hohen Lebenshaltungskosten vor Probleme gestellt. Bereits 2013 wurde das System staatlicher Leistungen unter David Cameron zuungunsten vieler Bezieher reformiert. Seitdem hat die Zahl derer, die auf die Hilfe von Lebensmitteltafeln angewiesen sind, zugenommen. Eigenen Angaben zufolge versorgte das Tafelnetzwerk Trussell Trust 2016 eine halbe Million Menschen mit Lebensmitteln. Dennoch wurden die Sozialleistungen von der May-Regierung bis 2019 eingefroren.

Vor diesem Hintergrund warnt das Institut Resolution Foundation davor, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder stärker öffnen werde. Es drohe ein Auseinanderdriften der unteren und oberen Einkommen wie seit den späten 1980er Jahren nicht mehr.

Auch der Think Tank Sutton Trust spricht von wachsender Ungleichheit bei gleichzeitig abnehmender sozialer Mobilität. Das heißt: Wer arm ist, bleibt es in der Regel auch. Hilary Cornwell von Sutton Trust erklärte auf nd-Nachfrage, die soziale Mobilität in Großbritannien sei im Vergleich zu anderen Industrienationen niedrig und habe außerdem – anders als zum Beispiel in den USA, wo sie lange auf niedrigem Niveau stagnierte – abgenommen.

Wer in den 1970er Jahren in eine arme Familie hineingeboren wurde, hatte demnach schlechtere Chancen auf einen sozialen Aufstieg als ein 20 Jahre zuvor geborener Brite. Seitdem hat sich dieser Trend verstetigt – und er droht sich zu verstärken. Dafür seien die wachsende Lücke zwischen den Einkommen und die Undurchlässigkeit des Bildungswesens ausschlaggebende Faktoren, so Cornwell.
Auch wenn soziale Ungleichheit zuletzt eine untergeordnete Rolle im Wahlkampf spielte, wird das Thema die neue Regierung vor Herausforderungen stellen. Denn die Aussichten sind düster: Das schwache Pfund lässt die Preise weiter steigen und die Reallöhne sinken. Dies hat Mark Carney von der Bank of England kürzlich prognostiziert. Derzeit spricht alles dafür, dass er Recht behält.

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