Polyfonie oder Kakofonie?

Geografische und weltpolitische Entgrenzungen: An diesem Wochenende startet in Kassel die «Documenta 14»

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Von Athen lernen« - so hatte Documenta-Chef Adam Szymczyk als Motto seiner Doppelmega-Ausstellung vorausgeschickt. Seit 8. April schon ist ein Teil in Athen zu sehen. Jetzt erfolgt in Kassel der zweite Teil der Unternehmung. Was die Organisatoren dabei von Athen gelernt haben mochten, fiel allerdings nicht recht ins Auge. Denn am Anfang standen die Pannen. Die Pressekonferenz begann später als angekündigt und dauerte länger. Deshalb wurden die Ausstellungsräume erst eine knappe Stunde später geöffnet als vereinbart. Szymczyk übte die Rolle eines Regenten aus, dessen Wort man erst andächtig lauschen muss, bevor sich die Tore für den Pöbel öffnen. Aristokratisches Gebaren von Machern, die sich in ihren Reden als Subjekte des Widerstands gegen den Neoliberalismus gerieren.

Als dann am Fridericianum auch noch der Scanner streikte, der die Akkreditierungen auslesen und Eintritt gewähren sollte, war der Auftakt komplett verpatzt. Ausgerechnet in die Ausstellung, die aus der Sammlung des Athener EMST - des dortigen Nationalen Museums für zeitgenössische Kunst - bestückt war, und die die kuratorischen Suchbewegungen am Co-Ort der Documenta zeigen sollte, war durch kleinere technische Pannen zunächst nicht zugänglich. In Athen wäre solch ein Malheur wahrscheinlich mit gelassener Souveränität überspielt und den Besucher wäre nach analogem Blick auf ihre Karten der Eintritt gewährt worden. Kassel hat wenig von Athen gelernt.

Immerhin hatte man durch diese Zwangspause Gelegenheit, sich dem Symbolobjekt dieser Documenta zu widmen, dem Parthenon der verbotenen Bücher. Hoch reckte sich dieser Alu-Plastik-Nachbau des antiken Tempels in den Kasseler Himmel. Etwa 46 000 Bücher befanden sich am Mittwoch bereits in den Säulen und am Giebel, teilte einer der Mitarbeiter mit. Bis auf 80 000 Bücher wolle man zum Ende der Documenta kommen; das maximale Fassungsvermögen betrage etwa 120 000 Bücher, hieß es.

Der Nachbau des Tempels aus Literatur, die einst von Machthabern verboten wurde, weil ihnen das dort versammelte Wissen sowie die dort geführte ästhetische und ethische Auseinandersetzung als zu gefährlich erschienen für die eigenen Machtinteressen - dieses Kunstwerk ist ein starkes Zeichen in Zeiten von Fake News, Informationsunterdrückung und zunehmender Zensur. Es ist aber ein Zeichen für die Vereinnahmungspraxis starker Werke. Die Künstlerin Marta Minujín installierte die Arbeit ein erstes Mal 1983 in Argentinien - als Hinweis auf die während der Militärdiktatur verbotenen Bücher.

Die jetzige Sammelpraxis verbotener Bücher, das Projekt hinter dem Projekt, wirft immerhin Fragen auf, die über die kopierte Protestgeste hinausgehen. Denn nur sehr ungenau ist das Ausmaß von Bücherverboten ermittelt. »Wir haben Listen von Opus Dei, der katholischen Kirche überhaupt. Die Verbotssituation in der DDR ist ebenfalls gut erforscht. Wir haben aber nur sehr wenig Hinweise, was beispielsweise in Nordkorea verboten ist«, erzählte einer der Koordinatoren des Projekts gegenüber »nd«. Bisher in die Datenbank eingepflegte Verbotslisten lassen seiner Einschätzung nach auf etwa 170 000 Werke weltweit schließen. Das Parthenon würde nicht ausreichen, um auch nur je ein Exemplar der verbotenen Werke aufzunehmen. Allerdings ist die Sammlungsbewegung gar nicht global ausgerichtet. Es dominieren Werke deutscher Autoren und Ausgaben in deutscher Sprache. Ein krasser Widerspruch zum globalen Behauptungscharakter der Ausstellung.

In ihr durfte jedes Mitglied des Kuratorenteams sein Spezialgebiet pflegen. Der in Kamerun geborene und in Berlin-Wedding den Ausstellungsraum »Savvy Contemporary« betreibende Bonaventure Soh Bejeng Ndikung steuerte aus Dakar El Hadji Sy bei. Sy ist eine Zentralgestalt afrikanischer Kunst, er tritt selbst als Organisator, Vernetzer und Hausbesetzer in Erscheinung. Seine Arbeiten kommen nicht auf feingewebter Leinwand. Er nimmt Jutesäcke, von deren Rückseite man noch die einstige Befüllung ablesen kann, und trägt dort mit dem Pinsel Gestalten des Alltags auf, Fischer vor allen Dingen. Die Konturen dynamisiert er mit Seilen, die er in Bögen auf dem Untergrund aufbringt - eine der eindrucksvollsten Positionen dieser Documenta.

Der belgische Kurator Dieter Roelstraete, ein Experte in Sachen Raubkunst, brachte hingegen die Familie Gurlitt, bekannt geworden durch die 2012 entdeckte Sammlung, in die Documenta ein. Werke der talentierten, aber jung verstorbenen expressionistischen Künstlerin Cornelia Gurlitt - einer Tante des Sammlungs-Erben Cornelius Gurlitt - sind zu sehen. Im gleichen Raum befindet sich auch eine naturalistische Akropolis-Darstellung ihres Großvaters Louis Gurlitt. Gleich daneben der Parthenon. Diese Originaldarstellung des Megakunstwerkes draußen auf dem Friedrichsplatz ist von Alexander Kalderach. Das belegt nicht nur die lange Begeisterung der Deutschen für Athen. Ausgerechnet diese Arbeit von Kalderach soll bei einem Jahrgang der »Großen Deutschen Kunstausstellung« auch Adolf Hitler sehr gefallen haben. Ein Beispiel für den Kunstgeschmack Hitlers im gleichen Raum mit Werken der Familie Gurlitt, die die sogenannte »entartete Kunst« teils rettete, sich ihrer teilweise bemächtigte - ein starkes Kapitel dieser Documenta.

Zahlreiche weitere historische Bezüge werden bearbeitet. Der Filmemacher Romuald Karmakar verknüpft eine Videoinstallation christlich-orthodoxer Gesänge mit einer Zeitleiste der Kreuzzüge. Die Künstlerin Regina José Galindo aus Guatemala läuft vor einem Panzer aus deutscher Produktion weg. Stefanos Tsivopoulos zeigt in der Sammlung des EMST Fotografien von Bombenattentaten aus der Zeit der griechischen Diktatur.

Die Documenta gerät durch dieses Nebeneinander zu einem politischen Bildungsbasar. Der große Zusammenhang wird aber nicht hergestellt - eine verpasste Gelegenheit. Bezeichnenderweise betraf das größte Lob des Kasseler Bürgermeisters und Aufsichtsratsvorsitzenden der Documenta, Bertram Hilgen, an Szymczyk dessen Leistung, den Kunst- und Kuratorentransfer zwischen Athen und Kassel besorgt zu haben. Die Documenta wird zur Messe; nicht die Inhalte, sondern die Logistik wird zum Markenzeichen. Das ist die Neoliberalisierung der Kunst durch ein Kuratorenteam, das feurige Worte gegen die Neoliberalisierung verkündete.

Die »Documenta 14« ist bis zum 16. Juli in Athen und bis zum 17. September in Kassel zu sehen.

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