Rationale Therapie noch nicht die Regel

AOK-Report: Ärzte verordnen Kindern und Jugendlichen im Nordosten Deutschlands deutlich weniger Antibiotika

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Zu viele Antibiotika-Verordnungen sind aus verschiedenen Bereichen bekannt: aus Krankenhäusern und Arztpraxen, aber auch aus der Veterinärmedizin und Betrieben der Massentierhaltung. Bisherige Eindämmungsversuche für den unsachgemäßen Gebrauch dieser Arzneimittel konnten das Problem noch nicht lösen. Das liegt auch daran, dass an vielen Punkten gleichzeitig angesetzt werden muss. Bei einer Zielgruppe gibt es jetzt einen Erfolg: Die Antibiotika-Verordnungen bei Kindern und Jugendlichen gingen im Nordosten Deutschlands von 2010 bis 2016 um 31 Prozent zurück. Das zeigt der AOK-Kinderreport, in dem anonymisierte Abrechnungsdaten dieser Krankenkasse für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ausgewertet wurden.

Der rückläufige Trend zeigte sich in allen Altersgruppen und für beide Geschlechter. 2010 hatten die Landkreise Vorpommern-Greifswald, Märkisch-Oderland und der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den höchsten Antibiotika-Gebrauch. Im Laufe der Jahre sank die Verordnungshäufigkeit hier am stärksten - dennoch lagen diese Regionen auch 2016 noch an der Spitze beim Verbrauch. Zu den jetzt festgestellten reduzierten Verordnungszahlen könnten neben einem allgemein gewachsenen Bewusstsein für das Problem auch Maßnahmen der AOK beigetragen haben. Im Nordosten gab es zum Beispiel eine Telefonkampagne des AOK-Teams Pharmakotherapie zum Thema Antibiotika. Gezielt wurden dabei Ärzte mit hohen Verordnungszahlen von Reserveantibiotika zur leitliniengerechten Therapie beraten. Zusätzlich bietet die Kasse individuelle Beratungen zur Pharmakotherapie an - auch dort sind Antibiotika regelmäßig Thema. Mediziner werden dabei etwa auf einen zurückhaltenden Einsatz dieser Medikamente bei Atemwegsinfektionen gemäß den Leitlinien der Fachgesellschaften hingewiesen.

Da es bei Kindern und Jugendlichen häufig zu akuten Infektionen kommt, setzten Ärzte bei ihnen besonders oft Antibiotika ein. Etwa ein Drittel der Säuglinge bekommt bundesweit mindestens eine Antibiotika-Behandlung pro Jahr. Der Dresdner Kinderarzt Reinhard Berner wies kürzlich darauf hin, dass in den meisten Fällen von Infektionskrankheiten bei Kindern Bewährtes wie Penizillin ausreiche. Jedoch würden nicht nur unnötig Antibiotika, sondern auch zu häufig Reserveantibiotika verschrieben. Diese sollten jedoch schweren und schwersten Infektionen vorbehalten sein. Während sich die Situation bei den Kinderärzten schon verbessert habe, sei das in der Erwachsenenmedizin noch nicht der Fall. Berner wies darauf hin, dass diese Therapieform sehr stark von Gewohnheiten und Verhaltensmustern geprägt sei. Deutlich seien regionale Unterschiede, im Osten würden traditionell weniger Antibiotika verordnet. Spitzenreiter in der Verordnung seien zum Beispiel das Saarland und Nordrhein-Westfalen.

Nach Schätzungen könnten bis zu 80 Prozent der Verordnungen unnötig sein. Einen besonders großen Spielraum haben Ärzte bei Atemwegserkrankungen wie Bronchitis, aber auch bei Angina, Mandel- oder Mittelohrentzündung - gerade diese Infektionen treten bei Kindern häufiger auf. Laut Berner könne in den meisten Fällen jedoch abgewartet werden. Eine symptomlindernde Behandlung reiche meist aus, so durch schmerzstillende und entzündungshemmende Medikamente. Infrage kämen auch Hausmittel wie Salbei- oder Kamillentee. Erst wenn die Symptome innerhalb von zwei Tagen nicht zurückgehen, sei es Zeit für Antibiotika. Auch dann müssten relativ klare Indikatoren für die Verordnung vorliegen. Gerade Atemwegsinfekte sind meist auf Viren zurückzuführen, die nicht auf Antibiotika ansprechen.

Nicht nur Antibiotika-Resistenzen gehören zu den gefährlichen Folgen unangemessener Therapien. Bei der Erforschung des Mikrobioms, also aller Bakterien, die auf und im Menschen leben, wird seit Jahrzehnten ein Rückgang der Artenvielfalt beobachtet. Damit in Zusammenhang wird die Entstehung einer regelrechten Adipositas-Epidemie gesehen. Dem US-Infektiologen Martin Blaser fiel auf, dass die Zahl der Übergewichtigen in jenen Bundesstaaten am stärksten zunahm, in denen besonders häufig Antibiotika verschrieben wurden, ohne dass es Infektionskrankheiten gab. In der Viehzucht werden die Medikamente - wenn auch in der EU inzwischen verboten - seit Längerem niedrig dosiert und erfolgreich zur Mast eingesetzt. Mikrobiom-Forscher gehen hier sogar noch weiter. Sie vermuten, dass eine Störung der körpereigenen Bakterienwelt in der Kindheit zu andauernden Veränderungen in Immunsystem und Stoffwechsel führt - und damit auch die Anfälligkeit für Allergien und Autoimmunerkrankungen erhöht wird.

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