Das Strafgericht

Von Iris Rapoport , Boston und Berlin

  • Iris Rapoport
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn’s ums Essen geht, tauchen immer wieder bizarre Mythen auf und verderben den Appetit. Die Irrationalität ist in der Welt. Tatsächlich sind wir bei der Ernährung auch schon längst im »Postfaktischen« angekommen.

Beispiel Gluten: Normale Getreideprodukte aller Art, selbst Nudeln und Bier, enthalten Gluten. Auch mit Dinkel kann man ihm nicht entkommen. Dort ist Gluten genauso enthalten wie in Backwaren aus Weizen, Roggen oder Gerste. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung in unserem Lande sind von Zöliakie, Glutenallergie oder Glutensensitivität betroffen. Für die restlichen 95 Prozent gibt es keinen Grund, glutenhaltige Nahrungsmittel zu meiden. Für sie bedeutet »glutenfrei« nicht notwendigerweise gesünder. Von Gluten befreite Nahrungsmittel haben oft mehr Fett, mehr Zucker, mehr Chemie und sind meist viel teurer. Schlimmer noch - bei Herzerkrankungen beraubt man sich möglicherweise sogar eines Schutzes, wie ein Team um Andrew T. Chan von der Harvard Medical School unlängst fand (DOI: 10.1136/bmj.j1892).

Ein von Natur aus glutenfreies Nahrungsmittel ist Milch. Doch auch der Milch ergeht es nicht besser: Da gibt es den Mythos, sie sei ein Kalziumräuber. Korrekt bilanziert zeigt sich das Gegenteil. Milch ist und bleibt ein exzellenter Kalziumlieferant.

Andere Mythen entspringen dem Irrtum, jeder nachweisbare schädliche Stoff in unserer Kost schade uns auch zwangsläufig. Dabei wird ignoriert, dass das immer eine Frage der Menge ist.

Schädliches ist in fast allem enthalten. Kein Wunder, schließlich ist nichts von dem, was wir, dem Säuglingsalter entwachsen, verzehren, von der Natur für unsere Bedürfnisse erzeugt - weder das Vitamine spendende Obst noch der Omega-3-Fettsäuren liefernde Fisch. So finden sich im gepriesenen Seefisch zugleich giftige Schwermetalle und im Obst die oft schlecht verträgliche Fruktose. Spinat, Mangold oder Süßkartoffeln enthalten Nierenstein förderndes Oxalat. Zucker liefert nur »leere« Kalorien, von Karies ganz zu schweigen.

Nicht zu vergessen, dass prinzipiell jedes Fremdeiweiß Allergien auslösen kann. Und erinnern Sie sich? Die Warnung vor Krebs erzeugendem Acryl im Knäckebrot oder die gleiche Drohung wegen des Zimts im Weihnachtsgebäck? Selbst im heilsamen Kamillentee sind gewiss nicht alle sekundären Pflanzenstoffe unserer Gesundheit förderlich. Der Beispiele gibt es noch viele.

Keine Frage, dass es bei bestehender oder drohender Erkrankung den einen oder anderen Stoff zu vermeiden gilt. Doch genauso, wie wohl kein Gesunder auf den Gedanken kommt, die Medizin eines Kranken zu schlucken, so ist es unangebracht, dessen Ernährungsregime blindlings zu folgen.

Ja, die Irrationalität ist Teil unserer Welt. Und neue Ideen haben oft einen besonderen Reiz. Doch eines vorbeiwehenden Mythos’ wegen alle seit Jahrtausenden gesammelten und heute oft wissenschaftlich untermauerten Erfahrungen zu verwerfen, ist konträr zu dem, was uns bei der Ernährung eigentlich treiben sollte: sinn- und lustvolle Bedürfnisbefriedigung. Lassen wir uns die Freude am Essen nicht nehmen!

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