»Es geht nicht darum, krampfhaft Klischees auszuhebeln«

Für das Kunstfestival »Acht Tage Marzahn« befragen KünstlerInnen Orte und Erinnerungen ihrer Jugend

Kennen Sie den Spruch »Lieber ’n Zahn zieh’n als nach Marzahn zieh’n«?

Stefan Kirste: Ich habe den schon mal gehört. Finde ich witzig. Isabell Wiesner: Für uns war es normal, dort aufzuwachsen. Vielleicht war es für unsere Eltern eher ein Problem, auf einmal weiter draußen zu wohnen. Meine Eltern sind 1982 aus den unhaltbaren Zuständen in ihrer Wohnung in Mitte nach Marzahn gezogen und waren froh, endlich in warmen, trockenen Zimmern zu leben. Mit Kindern umso mehr. Für uns Kinder war Marzahn Ende der 80er, Anfang der 90er ein riesiger Abenteuerspielplatz.

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Volles Programm an der Marzahner Promenade: Am 1. Juli beginnt das Kunstfestival »Acht Tage Marzahn« (Programm unter: www.acht-tage-marzahn.de), auf dem 24 Künstlerinnen und Künstler ihre Arbeiten aus den Bereichen Foto, Video, Sound und Performance zeigen. Viele von ihnen sind in den 1980er und 90er Jahren im Bezirk aufgewachsen, später zog es sie in die Welt hinaus. Jetzt kehren sie für acht Tage an Orte zurück, die sie künstlerisch geprägt haben. Isabell Wiesner und Stefan Kirste haben das Festival mitorganisiert. Mit ihnen sprach Christin Odoj. Fotos: privat

Die KünstlerInnen, die Sie fürs Festival kuratiert haben, stammen fast alle aus einer Generation. Was machte das Aufwachsen in Marzahn in Bezug auf die künstlerische Identität aus?

Wiesner: Die meisten KünstlerInnen, die auf dem Festival vertreten sind, sind tatsächlich die erste Generation, die in Marzahn groß geworden ist ... Kirste: Die Nachwendezeit war natürlich sehr prägend für uns alle. Im Plattenbau groß geworden zu sein, verlangt dir nach außen immer eine Haltung ab. Wiesner: Marzahn war ein besonderer Ort. Für Jugendliche gab es im doppelten Wortsinn unendlich viele Freiräume. Auf den Brachen waren ganz andere Sachen möglich als in der Innenstadt. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten.

Wie haben Sie diese Freiräume genutzt?

Kirste: Die Strukturen in Marzahn haben sich nach der Wende stark gewandelt. Diese Entwicklungen haben viele in Musik, Malerei oder Fotografie verarbeitet. Wiesner: Wenn man sich mit Marzahn in den 90ern beschäftigt, ist man automatisch mit verschiedenen Subkulturen konfrontiert, die mit den vorhandenen Flächen und Strukturen künstlerisch umgegangen sind, sei es fotografisch oder mit der Sprühdose. Kirste: Die Jugendklubs haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Fast alle, die beim Festival dabei sind, haben sich innerhalb dieser Strukturen kennengelernt, haben dort die ersten Gehversuche unternommen, sei es bei einem Foto-Workshop oder bei Partys, auf denen man mit der eigenen Musik präsent war.

Warum ein Kunstfestival in Marzahn? Sie hätten es in Mitte bequemer haben können.

Wiesner: Die Idee ist über mehrere Jahre gewachsen. Wir kennen einige der KünstlerInnen von früher und das gesamte Organisationsteam ist dort aufgewachsen. Viele aus dem Netzwerk von damals haben sich in eine künstlerische Richtung entwickelt. Alle sind irgendwann weggegangen, haben internationale Erfahrungen gesammelt, sind erfolgreich mit ihrer Arbeit. Wir dachten, dass es gut wäre, noch mal nach Marzahn zurückzukehren. Wir haben gemerkt, dass der Ort die meisten in ihrem Werdegang beeinflusst hat. Beim Festival wollen wir herausfinden, was Marzahn heute für uns künstlerisch ausmacht.

Was beschäftigt die KünstlerInnen in Bezug auf Marzahn?

Kirste: Es gibt KünstlerInnen, die sich explizit mit Marzahn auseinandersetzen, und andere, die das nur auf einer Metaebene tun. Einige KünstlerInnen, die sonst nichts mit dem Bezirk zu tun haben, haben einen Außenblick auf ihn geworfen. Diesen Dialog von Innen- und Außensicht abzubilden, war uns wichtig. Wiesner: Lars Hübner ist zwar in Rostock aufgewachsen, hat aber in Lichtenhagen ähnliche Erfahrungen gemacht wie wir damals. Sein Projekt beschäftigt sich mit der Selbstinszenierung von Jugendlichen in Marzahn. Für uns ist es außerdem wichtig, Geschichten zu erzählen, nicht einfach architektonische Oberfläche abzubilden. Die Band Marzahn von Franziska Pester-Homann, Eric Boden und Bastian Meyer ist für acht Wochen zurück in ihr altes Wohnhaus gezogen und hat aus den Erzählungen der alten und neuen Nachbarn Songs entwickelt. Kirste: Lukas Julius Keijser aus den Niederlanden hat zwar nichts mit Marzahn zu tun, hat uns aber aufgrund seiner performativen Kunst in Bezug auf Raum und Architektur begeistert. Wiesner: Interessant ist auch Tobias Donats Installation auf dem Parkdeck des Shoppingcenters »Eastgate«, weil sie sehr emotional auf die gemeinsamen Erlebnisse einer Generation reagiert, die in den 90ern im Bezirk aufgewachsen ist.

Was aus dem Programm hätte man zum Thema Marzahn so nicht erwartet?

Wiesner: Es wird ein Open-Air-Kino auf der Marzahner Promenade geben. Soweit wir wissen, ist es das erste überhaupt, das es im Ortsteil gibt. Das Hochhauskonzert der Band Marzahn ist sicherlich auch einzigartig, weil sie in allen elf Stockwerken performen wird.

Gibt es irgendeine kitschige Message, die mit dem Marzahn-Image zu tun hat, die Sie mit dem Festival verbinden?

Kirste: Es wäre schon schön, wenn wir Leute nach Marzahn holen können, die sonst nur darüber lesen oder hören. Wir haben zum Beispiel auch geführte Radtouren durch den Bezirk geplant. So kann man sich seine Bilder widerlegen oder bestätigen lassen - oder sich überhaupt erst welche machen. Wiesner: Aber generell geht es uns nicht darum, krampfhaft irgendwelche Klischees auszuhebeln. Wir wollen KünstlerInnen mit Marzahner Kontext eine Plattform bieten.

Für die Vorbereitung aufs Festival sind Sie noch mal in Ihren alten Kosmos zurückgekehrt. Wie war das?

Kirste: Sehr merkwürdig. Vieles, was mein Leben damals geprägt hat, gibt es nicht mehr. Die Grundschule wurde abgerissen, das Gymnasium gibt es nicht mehr. Kaufhallen und Jugendklubs sind verschwunden. Ich habe mich in einer eigenen Fotoarbeit, die auch auf dem Festival zu sehen sein wird, mit dem Verschwinden und dem Wandel von Orten auseinandergesetzt. Es ist erstaunlich, wie sich der Blick auf den Stadtteil ändert, wenn man nach 15 Jahren noch mal zurückkehrt.

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