Plastik ist Leben

Die Pet Shop Boys im Konzert: Schlagermusik fürs Proletariat und die Bildungsbürger

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Von oben hängen irgendwann bunte Kunststoffbälle verschiedener Größe herab: Blau, Gelb, Grün, Rot. Sie werden angestrahlt und leuchten. Blau, Gelb, Grün, Rot. Das ist schön anzuschauen. Plastik ist Leben. Überhaupt scheint Buntheit wichtig. Buntheit ist heute Trumpf.

Unter den Bällen, auf der Bühne, steht ein hochgewachsener älterer Mann in einem silbern schimmernden Wams. Er spaziert entspannt und gemessenen Schrittes auf der Bühne hin und her und singt: »Zusammen werden wir den Strand lieben/ Zusammen werden wir lernen und lehren/ Zusammen werden wir unseren Rhythmus des Lebens ändern/ Zusammen werden wir arbeiten und uns mühen/ Ich liebe dich, und ich weiß, du liebst mich/ Ich will dich, wie könnte es da sein, dass du mir widersprichst?/ Deshalb protestiere ich nicht.« Man möge, so empfiehlt der singende Mann seinem zahlreichen Publikum, das sich in der Berliner Mehrzweckhalle am Ostbahnhof versammelt hat, den Weg nach Westen einschlagen: »Go West.« Geht nach Westen. Denn im Westen, da sei der Himmel blau, das Leben friedlich und im Winter scheine die Sonne.

Das Publikum ist zufrieden und klatscht begeistert mit. Eskapismus ist keine schlechte Sache. Dass das Leben nicht immerfort ein Zuckerschlecken ist, weiß das Publikum zwar gewiss. Aber es sehnt sich nach einem Ort, an dem das Leben nicht mehr grau ist, so wie etwa auf der Riesenbaustelle in der unmittelbaren Umgebung des Ostbahnhofs, wo gerade die ca. hundertste Berliner Shopping Mall entsteht, die ungefähr genau so aussieht wie die 99 anderen identisch aussehenden Berliner Shopping Malls, nur größer und hässlicher. Es sehnt sich nach einem Ort, an dem das Leben bunt ist. Blau, Gelb, Grün, Rot. Und an dem bestenfalls nicht mehr die Menschen für die Shopping Malls da sind, sondern die Shopping Malls für die Menschen, um es einmal so zu sagen.

Es geht also, kurz gesagt, um Hedonismus, um die Feier des Lebens. Um das Leben, wie es sein könnte, wenn es nicht mehr grau wäre. Und damit es wenigstens für zwei Stunden nicht mehr grau ist, sondern blau, gelb, grün und rot, ist der Discobeat erfunden worden. Und vom Discobeat versteht der Mann im silbernen Wams etwas, denn er ist einer der beiden Pet Shop Boys. Diese sind ein Popduo aus Großbritannien, dem Land, in dem der Pop erfunden wurde.

Um guten Pop zu machen, das zeigen die seit über 30 Jahren durch die Welt ziehenden beiden Pet Shop Boys schon zu Beginn ihres Berliner Konzerts, ist es wichtig, ordentlich Lasergewitter und einen bunten Farbenzauber auf der Bühnenrückwand zu entfachen (Blau, Gelb, Grün, Rot, Kreise, Würfel, Spiralen, abstrakte Muster) und die passende Garderobe zu haben, zum Beispiel silberne Plastikhelme. Doch mit drolligen Plastikhelmen allein ist es nun mal nicht getan: Neil Tennant trägt wie immer einen Anzug (bevor er später am Abend sein Jackett gegen ein goldenes Wams tauschen wird), Chris Lowe trägt wie immer eine Kappe und eine Art Skibrille. Die Aufgaben sind zwischen den beiden seit über 30 Jahren ganz genau verteilt: Der eine spaziert singend über die Bühne, während der andere stoisch hinter einer Maschine steht, aus der der die guten Bumm-Bumm-Discobeats herauskommen. Man sieht: Der Discobeat ist nicht zu unterschätzen.

Mit richtig dosiertem und fachgerecht hergestelltem Discobeat in passender Lautstärke kann man große Menschenmengen zum Mitklatschen bewegen. Im Pop ist das nicht ganz unwichtig. Auch Melodien sind wichtig, am besten solche, die sich an den exakt dafür vorgesehenen Stellen als mitsingbar erweisen. Davon haben die Pet Shop Boys mehr als genug. Und bewegen Menschen damit. Klatsch, klatsch, klatsch, klatsch. Es lebe die Discokugel, die auf der Bühnenrückwand zu sehen ist.

»They called us the pop kids/ Cause we loved the pop hits«, singt Neil Tennant. Und da hat er zweifelsohne Recht. Blau, Gelb, Grün, Rot. Auf der Bühnenrückwand explodieren die Farbkreise. Bumm, bumm, bumm, bumm. Synästhesie, Überwältigungsästhetik. Und die Discokugel dreht sich. Das Leben, es könnte schön sein, wäre es ein Pet-Shop-Boys-Konzert, da beißt die Maus keinen Faden ab. Wichtig sind auch die unmissverständlichen Botschaften der präsentierten Lieder: »Und die Party ist heiß um mich und dich herum/ Wir werden diese Disco niederbrennen, bevor der Morgen kommt/ Wir werden diese Disco niederbrennen, bevor der Morgen kommt/ Das fühlt sich so gut an/ Das fühlt sich so gut an.« Blau, Gelb, Grün, Rot. Und nicht vergessen: Immer im Rhythmus bleiben. Was so schwer nicht fällt.

Manchmal, das muss sein, ertönt zum fein austarierten Bummbumm Fanfarenhaftes, Pathosgesättigtes, Triumph Signalisierendes. Und das Boller- und Ballerdiscohafte nimmt bisweilen überhand. Aber so muss das sein. So ist es vorgesehen bei einem Konzert der Pet Shop Boys. Und dazu: Blau, Gelb, Grün, Rot. Auch andere Farben, immerzu. Aber das ist irgendwann egal. Denn bunt bleibt bunt. Und der Regenbogen hat Farben genug. Heissa, heut' ist der Tag des großen Bummbummbumm, und wir sind dabei. Und lernen tun wir auch noch etwas nebenbei: »Liebe ist ein bourgeoises Konstrukt/ Also habe ich die Bourgeoisie abgeschrieben/ Wie all ihr Streben ist die Liebe ein Hirngespinst/ Als du mich sitzengelassen hast, hast du mir einen Gefallen getan/ Hast du mich dazu gebracht, der Realität ins Auge zu sehen/ Zu sehen, dass Liebe ein bourgeoises Konstrukt ist/ Ein eklatanter Irrtum/ Du wirst mich nicht mit einem Rosenstrauß sehen/Dir die Treue versprechend/ Die Liebe bedeutet mir gar nichts.« Man sieht: Pop ist niemals nur Pop. Vor allem dann nicht, wenn er von den Pet Shop Boys hergestellt wird. Stets kann er auch Handlungsanweisung sein für das richtige Leben im falschen. Selbst dann, wenn die einen offenbar ausschließlich mit stumpfsinnigem Im-Takt-Klatschen beschäftigt sind und die anderen mit angestrengter Textexegese. »Das Werk der Pet Shop Boys findet seinen sozialen Ort da, wo die Ausflüsse des Verbildungsbürgerlichten, Intelligenten, Distinguierten sich mit dem Schweiß des Mainstream-Pop-Proletariats mischen«, schrieb vor einem Jahr Arno Raffeiner in der Kulturzeitschrift »Spex«. Blau, Gelb, Grün, Rot. »Jetzt gehe ich meine Taschenbücher aus Studentenzeiten durch/ Blättere mal wieder Karl Marx durch (…) Liebe ist ein bourgeoises Konstrukt/ Also lass ich's mit der Bourgeoisie/ Bis du zu mir zurückkommst.«

Auch wahre, nicht ganz unkomplizierte Botschaften können mit einem Discobeat vermittelt werden. Solange die Pet Shop Boys sie aussprechen.

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