Grenzenloses Miteinander

Seit der Eiserne Vorhang fiel, ist Bildein im Südburgenland ein weltoffenes, gastfreundliches Dorf mitten in Europa

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.

Man braucht schon eine Karte mit sehr großem Maßstab, um Bildein zu finden. Jenen 350-Seelen-Ort im Südburgenland im Dreiländereck Österreich, Ungarn, Slowenien. Ein Dorf, in dem vor knapp 30 Jahren noch der sprichwörtliche Hund begraben lag und es für viele Einheimische nur eine Devise gab: Nichts wie weg!

Dabei lebten die Menschen hier jahrhundertelang friedlich und grenzenlos miteinander, fast alle wuchsen dreisprachig auf und unterhielten sich stets in der Sprache, die den meisten gerade Anwesenden Muttersprache war. Mit dieser grenzenlosen Idylle war es allerdings vorbei, als nach dem Ersten Weltkrieg die Sieger 1919 entschieden, »Deutsch-Westungarn« Österreich anzuschließen. Mit dem Ergebnis, dass ein Teil der Region ab 1921 offiziell zu Österreich, ein anderer zu Ungarn gehörte und ein Exodus einsetzte, der bis in die 90er Jahre anhalten sollte. Denn mit der Grenzziehung verloren jene Menschen, die nun in Österreich und damit im armen, kleinbäuerlich geprägten Teil lebten, ihr wirtschaftliches, wissenschaftliches und politisches Zentrum, das schon immer die reiche Stadt Szombathely war, nur 19 Kilometer von Bildein entfernt, zu Ungarn gehörend. Viele Burgenländer verließen deshalb ihre Heimat und wanderten in den 20er Jahren ins nahe Ungarn oder ins ferne Amerika aus.

Noch schlimmer traf es die Menschen, als im März 1938 Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen wurde. Hitler erklärte diesen Teil des Südburgenlandes als »Testgebiet« für seine »Endlösung der Judenfrage« - die wenigen Überlebenden der einst hier ansässigen 4000 Juden kehrten ihrer Heimat nach dem Krieg für immer den Rücken. Kurz vor Kriegsende zwang das NS-Regime KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, in der Region den sogenannten Südostwall zu bauen, um die vorrückende Rote Armee zu stoppen. Zehntausende kostete dieses sinnlose Unternehmen das Leben. Viele weitere - vor allem ganz junge und ganz alte Dorfbewohner - starben, als sie gezwungen wurden, als »Volkssturm« die Russen aufzuhalten. Die Rote Armee marschierte im Frühjahr 1945 ins Südburgenland ein, das bis 1955 Teil der sowjetischen Besatzungszone in Österreich blieb. Als nach dem gescheiterten Volksaufstand im Herbst 1956 Zehntausende Ungarn über die burgenländische Grenze in den Westen flüchteten, errichtete die ungarische Regierung dort eine massive Befestigung. Diesseits und jenseits der Grenze wurde die Region immer mehr zum vernachlässigten Armenhaus, wer irgendwie konnte, zog weg.

Mit dieser Entwicklung wollte sich eine Gruppe junger Leute nicht abfinden. »Wir müssen etwas tun, um unser Dorf zu retten und zu erneuern«, sagten sie sich Mitte der 80er Jahre. Sie hatten das Glück der neuen Zeit auf ihrer Seite, denn bald schon fiel der Eiserne Vorhang, und die EU stellte für die verarmten und vernachlässigten Randregionen gut gefüllte Fördertöpfe zur Verfügung, von denen auch Bildein profitierte.

»Was wollt ihr«, fragten die jungen engagierten Leute in Aufbruchstimmung ihre wenigen verbliebenen Mitbewohner, als der Gemeinde erste Fördergelder angeboten wurden. Erstaunlicherweise entschieden sich die meisten für ein Museum, das die lange und schwierige Geschichte des Südburgenlandes zum Inhalt haben sollte. Heute ist das »Burgenländische Geschichte(n)haus« ein zentraler Platz im Ort, an dessen Ausgestaltung viele Dorfbewohner mitgewirkt haben. Durchgängig zweisprachig - Deutsch und Ungarisch - ist es ganz dem Thema Grenze und Grenzerfahrungen gewidmet.

Inzwischen leben und arbeiten die Menschen hier wieder grenzüberschreitend, und so wunderte ich mich gar nicht, dass mich mit Zoltán Szabadfi ein junger Ungar durch das Museum führt, der beide Sprachen genauso perfekt beherrscht wie einst sein Großvater. Zoltán wohnt in Szombathely, fühlt sich aber in Bildein genau so zu Hause.

Beim Bummel durch das Dorf erfahre ich von ihm Erstaunliches: Heute gibt es hier zehn funktionierende Vereine, kaum ein Bewohner, der sich nicht in mindestens einem engagiert. Manche Mitglieder kommen, wie Zoltán, auch aus dem Nachbarland. Er gehört zu den Mitorganisatoren des seit 2000 alljährlich im August stattfindenden Rockfestivals »Picture on Festival«. Die Grundidee, mit Hilfe der Rockmusik Grenzen in den Köpfen abzubauen und dazu beizutragen, dass die jahrzehntelang durch den Eisernen Vorhang geteilte Region wieder zusammenwächst, ist in schönster Weise aufgegangen. Waren es im ersten Jahr ganze 150 Musikbegeisterte, die sich für ein Wochenende in dem winzigen Dorf trafen, so gilt es heute als eines der bedeutendsten Open Air Festivals in Österreich, das familiärste ist es sowieso. Um eine der 2500 Festivalkarten zu ergattern, muss man schon sehr schnell sein. »Der Kartenverkauf für dieses Jahr begann am 11. November 2016. Die 200 Frühbuchertickets waren nach zwei Minuten bereits ausverkauft«, erzählt Zoltán. »Die Leute kommen inzwischen aus ganz Österreich, aus Ungarn und vielen anderen Ländern, um gemeinsam zu feiern, abzutanzen, bekannten Bands oder Autoren zuzuhören. Gab es anfangs noch ältere Einwohner, die sich über den Lärm beschwerten, so freut sich heute das ganze Dorf auf das rockige Wochenende.« Direkt neben der Kirche unter der riesigen Platane steht die Hauptbühne. Und der Pfarrer ist selbstverständlich und leidenschaftlich immer mittendrin.

28 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Bildein wieder ein lebendiger Ort mit einer vorbildlichen Infrastruktur und einem aktiven kulturellen Leben für alle Altersgruppen. Was zur Folge hat, dass die Einwohnerzahl ständig wächst. Auch einige derjenigen, die vor Jahren frustriert wegzogen, weil sie hier keine Lebensperspektive mehr sahen, sind inzwischen zurückgekommen.

Wo auch immer man sich im Dorf befindet, das Thema Grenze ist überall präsent. Quer durch den Ort zieht sich der »Grenzerfahrungsweg«, ein etwa fünf Kilometer langer Wanderweg mit mehreren Stationen, an denen die Besucher einen eindrucksvollen Blick in die wechselvolle Geschichte der Region erhalten. So kann man einen originalen Bunker aus der NS-Zeit sehen, einen ehemaligen Grenzturm nebst Grenzsicherungsanlagen aus der Zeit des Eisernen Vorhangs oder einen Teil des Schützengrabensystems des Südostwalls. Bild-Text-Tafeln ergänzen die Stationen, die so gestaltet sind, dass sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen ansprechen. Damit soll bewusst zu generationenübergreifenden Gesprächen angeregt werden.

Zu Gesprächen wird garantiert auch angeregt, wer auf das eine oder andere Glas im Weinarchiv vis-à-vis der Kirche vorbeischaut. Hier soll die Geschichte der langen Tradition des Weinanbaus im Südburgenland erzählt und behütet werden. Deshalb hat man sich vor 17 Jahren entschlossen, im wohltemperierten Keller der Pfarrei die besten Tropfen der einheimischen Topwinzer zu archivieren. Nur zu ganz besonderen Anlässen wird die eine oder andere Flasche davon geöffnet. Was nicht heißt, dass es im Weinarchiv trocken zugeht. Jedes Wochenende und an Feiertagen öffnet die neu erbaute Weinbar über dem Keller. Die regionalen Winzer wechseln sich mit der Bedienung der Gäste ab, die zwischen 40 hervorragenden einheimischen Weinen wählen können. Das Glas für zwei Euro. »Früher war die Milchsammelstelle der Ort, wo man sich zum Dorfklatsch traf, heute ist es das Weinarchiv«, erzählt Biowinzer Gerhard Müllner, der an diesem Tag die Rolle des Gastgebers übernommen hat. Besucher des Ortes übrigens sind immer herzlich willkommen.

Infos

Kulturverein Grenzgänger Bildein:

Tel.: +43 3323 21999

www.bildein.at

Burgenländisches Geschichte(n)haus:

geöffnet von Ostern bis Ende Oktober Sa, So und feiertags von 14 bis 17 Uhr und nach telefonischer Anmeldung täglich zwischen 9 und 17 Uhr

Tel.: +43 3323-2597 oder -21999

www.bildein.at/geschichtenhaus

Weinarchiv Bildein: geöffnet Ostersonntag bis 26. Oktober samstags, sonntags und feiertags von 14 bis 20 Uhr, freitags von 17 bis 20 Uhr

www.bildein.at/sehenswertes/weinarchiv

Rockfestival Picture on Festival:

Immer am 2. Augustwochenende, in diesem Jahr am 11./13.8.

www.pictureon.at

Besonderer Tipp:

Bildein liegt am Radfernweg Eurovelo 13 (Eiserner-Vorhang-Route), der über 7650 Kilometer und durch 20 Länder führt.

www.eurovelo13.com

Allgemeine touristische Informationen zum Südburgenland:

Tel.: +43 3352 31313-0

www.suedburgenland.info

Literatur: »Burgenland«, Trescher Verlag Berlin, 3., aktualisierte Auflage 2017, 240 Seiten, 110 Fotos und 19 historische Abbildungen, komplett in Farbe, 14 Stadtpläne und Übersichtskarten, farbige Klappkarten, ISBN 978-3-89794-372-8, 14,95 Euro

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