»Behinderte werden ghettoisiert«

Aktivist Matthias Vernaldi über Körperscham, Wohnungsnot und fehlende Assistenz

  • Lesedauer: 4 Min.

Am nächsten Samstag läuft die vierte »Behindert und verrückt feiern«-Parade durch Kreuzberg. Was bedeutet dieses Event für Sie?

Ich habe die ersten beiden Paraden mit vorbereitet. Viele Menschen mit Behinderung in dieser Stadt haben das sofort aufgegriffen, um sich zu zeigen. Wir sind faktisch ausgegrenzt und auch mit Scham behaftet - man schämt sich ja irgendwann für seinen nicht funktionierenden Körper. Aber wir feiern und zeigen: So, wie wir sind, sind wir o.k. Dieses Moment gibt es in anderen politischen Auseinandersetzungen, in die wir involviert sind, nicht.

Im April haben Sie das Rathaus des Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg besetzt und gefordert, dass der Sozialstadtrat endlich die Kosten für Assistenzen bei Krankenhausaufenthalten zahlt. Zahlt er jetzt?

Ja, der Bezirk hat jetzt bezahlt, ein Vierteljahr später.

Wie sieht es in den anderen Bezirken aus?

Es gibt noch ein paar Bezirke, die nicht zahlen. Vor allem Mitte. Dabei geht es nicht darum, dass wir um irgendetwas bitten, sondern dass ein Vertrag eingehalten wird.

Planen Sie weitere Proteste?

Selbst wenn, wollen wir das vorher nicht in der Zeitung lesen. Das sollen Überraschungsbesuche werden. Das sieht immer ganz locker aus, wenn 30 Leute mit einem Rollstuhl ankommen, aber das zu organisieren, ist ein ziemlicher Aufwand: viel problematischer als für Leute, die mobiler sind.

Was hat sich getan, seitdem nicht mehr die CDU, sondern die SPD für Gesundheit und Pflege und die LINKE für Soziales verantwortlich ist?

Noch nicht viel. Das politische Personal muss von uns erst einmal neu eingearbeitet werden. Mit Frau Breitenbach habe ich schon länger geredet, noch bevor sie Senatorin war. Mit Frau Kolat überhaupt noch nicht.

Sie sagen, Sie müssen die Politiker einarbeiten?

Das sage ich natürlich mit einem ironischen Unterton. Aber es ist wirklich so, dass man das politische Personal zum Beispiel beim Thema Assistenz immer wieder neu einarbeiten muss, weil die gar nicht wissen, was das ist. Doch durch die neuen Gesetze ist nicht mehr das politische Personal der Verhandlungspartner, sondern die Pflegekasse. Das ist das eigentliche Problem.

Was kann man lokal gegen geänderte Bundesregelungen wie das Bundesteilhabegesetz oder das Pflegesicherungsgesetz unternehmen?

Kaum etwas von dem, was wir für das Bundesteilhabegesetz gefordert haben, findet sich darin wieder. Eine ganz schlimme Veränderung ist, dass es keinen Anspruch mehr auf Hilfen zur Eingliederung gibt. Im Ernstfall ist das eine Katastrophe. Wie wir das in Berlin gestalten, wie man das Schlimmste verhindert, dafür gibt es jetzt einen neuen Beirat, der von den Betroffenen begleitet wird. Aber da zeichnet sich noch nicht so viel ab.

Was sind die drängendsten Probleme für Behinderte und psychisch Kranke in der Stadt?

Eins der drängendsten Probleme ist das Wohnungsproblem. Teilhabe und Inklusion bedeutet, dass so viele Menschen wie möglich raus aus den Einrichtungen müssen, in eine eigene Wohnung. Doch es gibt wenig Wohnungen im bezahlbaren Bereich - die meisten behinderten Menschen sind keine Gutverdiener, sondern in der Regel Sozialhilfeempfänger. Menschen, die im Rollstuhl sitzen, brauchen darüber hinaus barrierefreie Wohnungen. Da sieht es ebenfalls sehr schlecht aus, selbst für Wohngemeinschaften. Dass man mitten im Kiez eine Etage bewohnt, in einem Haus, in dem auch andere Mieter sind, was in den vergangenen 15 Jahren üblich war, wird immer seltener. Behinderte werden wieder ghettoisiert durch die Fakten, die der Wohnungsmarkt schafft.

Auch für psychisch Kranke ist das ein Problem ...

Ja. Wenn jemand einen psychotischen Schub oder eine schwere depressive Phase hat und die Miete nicht zahlt, ist die Wohnung schnell wieder weg. Es gibt zwar die Regelung, dass Vermieter bei psychischer Erkrankung nicht ohne Weiteres kündigen können. Aber das durchzusetzen, erfordert sehr viel Kraft, die die Leute nicht haben. Da landen viele auf der Straße - das müsste nicht sein. Auch Initiativen wie das Weglaufhaus, die sich bemühen, dass Menschen mit psychiatrischen Problemen ein Leben führen können, wie sie es wollen, bräuchten größere Räume und das Dreifache an Stellen.

Wie ist es im Bereich der Assistenz?

Es gibt zu geringe Hilfen. Da wird gesagt: Wenn der Nachbar einkauft, reicht das, selbst einkaufen muss man nicht. Und: Wenn das Essen auf Rädern kommt, reicht das, selbst kochen muss man nicht.

Die Koalition hat sich auch die Inklusion an Schulen auf die Fahnen geschrieben. Wie funktioniert das Ihrer Meinung nach?

Seit etwa zehn Jahren haben wir zu Schuljahresbeginn ein großes Aufheulen von Eltern behinderter Kinder, weil es zu wenige Schulhelfer gibt. Die sollen den Schülern beim Lernen helfen. Wenn der Schüler auf Toilette muss, müsste eine Pflegeperson kommen. Die pflegerischen Bedarfe sind bei den Schulhelfern nicht einberechnet. Die beuten sich dann selbst aus, weil es gute Menschen sind. Wenn sich das dieses Jahr erstmalig ändern sollte, wäre das großartig.

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