Aus der Schublade befreit

Eine denkwürdige Neueinspielung der Sinfonien Felix Mendelssohn Bartholdys unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Schubladen gehen die populäre Musikgeschichtsschreibung und die Musikindustrie recht sorglos um. So wird Felix Mendelssohn Bartholdy hauptsächlich als wichtiger Exponent der Frühromantik eingeordnet. Oder auch als »Wunderkind«, dessen Genius mit dem von Mozart zu vergleichen sei. Dass sich der 1809 in Leipzig geborene Komponist im Spannungsfeld zwischen der von Mozart und Haydn geprägten Wiener Klassik und der Romantik bewegte, wird niemand bestreiten. Doch sein vielfältiges Schaffen darauf zu reduzieren, ist grob fahrlässig - vor allem, wenn die Interpretationen seiner Werke diesem Konstrukt verhaftet bleiben, was leider viel zu oft der Fall ist.

Auch der Mozart-Vergleich ist weit hergeholt. Während dieser bereits als sechsjähriges »Wunderkind« von seinem Vater wie ein dressiertes Zirkuspferd zu Auftritten in Adelshäusern getrieben wurde und wenig später eine dreieinhalb Jahre währende »Europatournee« absolvierte, wuchs Mendelssohn behütet und umsorgt in einer angesehenen, wohlhabenden großbürgerlichen Familie auf, die nicht nur für die Förderung seiner musikalischen Anlagen, sondern auch für umfassende Bildung sorgte.

Auch Mendelssohn begann schon in früher Kindheit mit dem Komponieren. Bereits als 15-Jähriger ging er erstmals den Schritt zur ganz großen Form: der mehrsätzigen Sinfonie mit Streichern und Bläsern. Diese 1. Sinfonie wurde - unter Missachtung der bereits erkennbaren eigenen Formensprache - stets als Spätwerk der Wiener Klassik eingeordnet.

In zwei weiteren Sinfonien, der »Schottischen« und der »Italienischen«, verarbeitete Mendelssohn dann die Eindrücke von zwei Bildungsreisen. Diese Werke gelten gemeinhin als romantisch, obwohl Mendelssohn die »Italienische Sinfonie« über die vier Sätze von Dur nach Moll führt - was sie für diese Epoche zum Unikum macht.

Dies gilt auch für das als »Lobgesang« bekannte Auftragswerk, das der Komponist für ein Festkonzert in der Leipziger Thomaskirche anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg schrieb. Im Kern handelt es sich dabei um ein Vokalwerk in Form einer Kantate für Chor und Solisten. Die teilweise erst später hinzugefügten Instrumentalsätze legten aber auch eine Einstufung als Sinfonie nahe. Doch das ist bis zum heutigen Tag umstritten.

Ohnehin wurden alle Sinfonien von dem stets nach Perfektion suchenden Mendelssohn mehrfach überarbeitet. Am meisten haderte er mit seiner »Reformations-Sinfonie« zum 300. Jubiläum des »Augsburger Bekenntnisses« von Kaiser Karl V., die er einige Jahre nach der Berliner Uraufführung (1832) sogar komplett verwarf. Diese 5. Sinfonie erschien daher erst 1862 im Druck, 15 Jahre nach Mendelssohns Tod im Alter von 38 Jahren.

Es ist wenig seriös, die zwischen 1824 und 1840 geschriebenen Sinfonien dieses Komponisten durch ein einfaches musikhistorisches Raster zu betrachten. Mendelssohn verfügte durch seine fundierte Ausbildung und seine profunden Kenntnisse alter, barocker und klassischer Musik über ein Rüstzeug, das - verbundenen mit einem schier unerschöpflichen Ideenreichtum - zu immer neuen musikalischen Synthesen führte. Und das nicht nur in seinen Sinfonien, sondern in vielen der im 2009 veröffentlichten Werkverzeichnis erfassten 750 Kompositionen.

Entsprechend erwartungsvoll blickte die Musikwelt auf eine komplette Neueinspielung aller fünf Sinfonien, die jetzt veröffentlicht wurde. Zumal sich mit Yannick Nézet-Séguin einer der interessantesten jungen Dirigenten der Gegenwart dieser Aufgabe angenommen hatte. Der 42-jährige Franko-Kanadier leitete bereits seit 2000 mehrere renommierte Orchester und ist gefragter Gaststar in der ganzen Welt. 2020 wird er als Musikalischer Direktor einen der großen globalen Kulturleuchttürme übernehmen: die Metropolitan Opera in New York. Derzeit leitet er das ähnlich renommierte Philadelphia Orchestra.

Nun also Mendelssohn Bartholdy. Aufgenommen wurden die fünf Sinfonien während eines dreitägigen Konzertzyklus in der Pariser Philharmonie im Februar 2016. Mit dem ihm seit Jahren vertrauten Chamber Orchestra of Europe hat Nézet-Séguin genau den richtigen Klangkörper gewählt: nicht zu üppig besetzt, aber dennoch kraftvoll, dynamisch und vor allem detailversessen. Das gilt auch für den RIAS-Kammerchor, der beim »Lobgesang«, also der 2. Sinfonie, die bei diesem Stück recht schwierig zu treffende Balance zwischen Zartheit und Wucht hält.

Es ist eine denkwürdige Aufnahme. Die fünf Sinfonien werden nicht einfach »gespielt«, sondern bis in jede Ecke ausgelotet, penibel auf Einflüsse - etwa von Bach und Beethoven - untersucht und mit allen erdenklichen musikalischen Farben versehen. Es ist eine Zeitreise durch die faszinierende Klangwelt und auch moralische Haltung eines großen Komponisten, der lange Zeit (nicht nur von Wagner) geschmäht und von den Nazis als »undeutsch« verbotenen wurde. Sie beginnt mit einem schmetternden, lebensfrohen Allegro di molto in der 1. und endet mit der raumgreifenden Bearbeitung des Chorals »Ein feste Burg ist unser Gott« in der 5. Sinfonie. Knapp dreieinhalb Stunden ergreifende Musik, die man unbedingt hören sollte.

Mendelssohn: Symphonies 1 - 5. Chamber Orchestra of Europe/RIAS Kammerchor/Yannick Nézet-Séguin (Deutsche Grammophon, 3-CD-Box, 24,99 €)

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