Mit 15 PS ins Mittelalter

Dolce Vita - ein Ausflug mit dem Kultroller Vespa durch die Toskana

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Mein ganzes Leben lang begleitet mich höllischer Respekt vor motorisierten Zweirädern, doch Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel: Schon lange träumte ich davon, mit der »Mutter aller Motorroller« auf Entdeckungstour durch ihre Heimat zu gehen. Nun endlich ging dieser Wunsch in Erfüllung. Wobei, vor dem Vergnügen stand zunächst die Pflicht, nämlich nachzuweisen, dass ich auch in der Lage bin, eine Vespa sicher zu fahren. Ein wenig »zickte« der schöne rote Flitzer zwar anfangs mit mir herum, machte leichte Sprünge, statt sanft und anmutig dahinzugleiten, doch schon bald verstanden wir uns prächtig, und dem gemeinsamen Ausflug in die Toskana stand nichts mehr im Wege.

Ausgangspunkt ist Castelfalfi, ein kleines Dorf zwischen Pisa, Florenz und Siena. Vor über 800 Jahren gegründet, lebten die Menschen hier mehr schlecht als recht von der Landwirtschaft - insbesondere vom Anbau von Wein und Oliven. 476 Menschen waren es in seiner Blütezeit. Eine Tabakfabrik, die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, brachte zwar viele in Lohn und Brot, doch spätestens, als sie 1970 schloss, war Castelfalfi dem Untergang geweiht. Immer mehr Menschen verließen ihre Heimat und zogen der Arbeit nach, bis um die Jahrtausendwende nur noch fünf Menschen hier ausharrten. Die hübschen Steinhäuser verfielen, Castelfalfi wurde zu einem Geisterdorf. Ein erster Versuch, die Landwirtschaft zu revitalisieren und Tourismus anzusiedeln, scheiterte kläglich. Bis 2007 die TUI AG es erwarb, um mit dem Dorf eines der größten Tourismusprojekte Italiens zu verwirklichen. Rund 250 Millionen Euro steckte der Reisekonzern in die behutsame Sanierung des mehr als 1100 Hektar umfassenden Areals mit Wäldern, Weinbergen und Olivenhainen, ein Teil der Häuser wurde privat verkauft, ein anderer als Ferienwohnungen saniert. Aus der alten Tabakfabrik wurde das Boutiquehotel La Tabaccaia, es entstanden ein öffentliches Schwimmbad, zahlreiche kleine Geschäfte und Cafés, ein Golfplatz und eine Trattoria. Die mittelalterliche Burg aus dem 13. Jahrhundert beherbergt heute ein Spezialitätenrestaurant. Castelfalfi ist inzwischen wieder ein Schmuckkästchen, wovon andere verlassene Dörfer noch träumen. Einzig das neu errichtete Fünf-Sterne-Hotel Il Castelfalfi wirkt auf mich ein wenig wie ein Tropfen Essig im Glas Wein, wenngleich die Erbauer betonen, es dem Stil des Dorfes angepasst zu haben. Nun ja, Schönheit liegt eben auch immer im Auge des Betrachters.

Nach einem kurzen Abstecher zur Burg, von wo aus man einen fast schon kitschig schönen Blick in die Toskana hat, rollen wir mit 15 PS in Richtung San Gimignano und damit direkt hinein ins Mittelalter. Rund 30 Kilometer hügelige und sehr kurvenreiche Strecke liegen vor uns, die Vespa schnurrt munter vor sich hin, längst hat sich mein Lampenfieber gelegt, so dass ich endlich auch die Landschaft genießen kann. Hinter fast jeder Kurve wartet ein neuer Bilderbuchblick - auf satt grüne Weinhänge, Pinienwäldchen, idyllisch gelegene Dörfer, die zumeist auf Hügeln errichtet wurden, und natürlich überall auf die schlanken Zypressen, ohne die die Toskana unvorstellbar wäre.

Inzwischen vertraut miteinander, müssen wir uns in San Gimignano für die nächsten Stunden trennen. Weder Vespa noch irgendein anderes Gefährt darf den historischen Stadtkern »betreten«. Dennoch schafft es der Roller für kurze Zeit, allen Sehenswürdigkeiten, wegen der die unzähligen Touristen eigentlich gekommen sind, den Rang abzulaufen. Denn mein kleiner Flitzer und ich sind nicht allein. 14 weitere »glückliche Paare« haben gleichzeitig ihren großen Auftritt vor dem Stadttor. Wir Zweifüßler können gar nicht so schnell gucken, wie Touristen aus allen Herrgottsländern unsere zweirädrigen Begleiter bewundernd in Beschlag nehmen, mit ihnen für Erinnerungsfotos poussieren, und den einen oder anderen fast eifersüchtigen Blick auf uns werfen. Ach, wenn sie wüssten, dass auch für uns in wenigen Stunden der Abschied naht - denn längst haben wir uns alle in unsere Wespe verliebt.

Doch daran wollen wir im Moment noch nicht denken, fühlen uns wie stolze Besitzer und schicken unsere motorisierten Begleiter erst einmal in die Pause, während wir uns das »Mittelalterliche Manhattan« ansehen, wie die 1000-jährige Stadt wegen seiner 14 noch vorhandenen sogenannten Geschlechtertürme auch genannt wird. Einst gab es in San Gimignano, dessen historischer Stadtkern seit 1990 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, sogar 70 von diesen Wohn- und Verteidigungstürmen. Je höher der Turm einer Familie gebaut wurde, desto höher war deren Ansehen. Und so wundert es nicht, dass sich die reichen Patrizierfamilien gegenseitig versuchten auszustechen. Der höchste noch vorhandene Turm ist mit 54 Meter der 1311 erbaute Torre Grossa. Einst standen in vielen mittelalterlichen Städten der Region solche Türme, doch nirgendwo sind so viele erhalten wie hier. Seine Existenz verdankt die Stadt der Via Francigena (Frankenstraße), einem im Mittelalter wichtigen Pilger- und Handelsweg, der von Nordeuropa nach Rom führte. Der Handel und der Anbau von Safran rund um San Gimignano, mit dem man Seidenstoffe färbte, machte die Stadt reich, so reich, dass die Stadtväter sogar ein Gesetz gegen übertriebenen Luxus erließen. Im Spätmittelalter allerdings verlor die Frankenstraße ihre Bedeutung, weil die Händler die bequemeren Wege durch die inzwischen trockengelegten Sümpfe der Ebenen vorzogen. Die Stadt verarmte zunehmend. Aus heutiger Sicht ein absoluter Glücksfall, denn dadurch wurde San Gimignano für potenzielle Eroberer uninteressant, und auch keine fremden Machthaber zwangen die Adeligen - wie in Siena oder Bologna - ihre Türme zu schleifen.

Heute sind es vor allem Touristen, die die Frankenstraße entlang pilgern und dafür sorgen, dass die Inhaber der vielen kleinen Läden mit typischen Produkten aus der Region links und rechts der Straße ihr Auskommen haben. Ein Pilgerziel haben fast alle - den Eissalon Dondoli auf der Piazza della Cisterna, dem Hauptplatz der Stadt. 17 Jahre lang arbeitete Sergio Dondoli als Eismacher in Lübeck und Kiel, bevor er sich Anfang der 90er in San Gimignano sesshaft machte. Mehr als 30 verschiedene Sorten bietet er täglich an, jede einfach himmlisch gut. Das fanden auch 2006 und 2008 die Juroren beim Weltcup der Eishersteller, die ihm die Krone für den besten Eismacher der Welt aufsetzten. Kein Wunder, dass vor seinem Laden die Schlange der Schlemmermäuler nie abreißt.

Noch eine Waffel vom Eischampion und dann nichts wie zu meinem roten Flitzer, der mich sicher zurück nach Castelfalfi bringt. Wie hätte wohl Goethe die Vespa besungen, hätte es sie schon gegeben, als er 1786 die Toskana bereiste, geht es mir beim Abschied so durch den Kopf. Bei mir reicht’s leider nur zum unprosaischen »Machs gut Schöne, vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«

Infos

Vespa Touren: www.vintagetours.it
Feriendorf Castelfalfi: www.castelfalfi.com/de; www.tui.com
Touristische Infos San Gimignano: www.sangimignano.com
Eissalon Dondoli: www.gelateriadipiazza.com/deutsch/sergio-dondoli.html

Tipp: Das Hotel und Restaurant Locanda la Mandragola serviert hervorragende hausgemachte toskanische Gerichte und bietet einen fantastischen Blick auf die »Skyline« der Stadt. www.locandalamandragola.it/de

Literatur: Reisetaschenbuch »Toscana«, DuMont Verlag, 15,99 Euro

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