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Jeder Zweite, hierzulande

Warum Erdogan wählen? Ein Besuch in Berlin-Wedding

  • Ellen Wesemüller
  • Lesedauer: 9 Min.

Wer auf den Straßen des Sprengelkiezes in Berlin-Wedding fragt, wo hier Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu finden seien, kann zu dem vorschnellen Ergebnis kommen: nirgends. »Ich hab’ jetzt keine Zeit und für Erdogan erst recht nicht«, sagt der Angestellte eines Dönerladens, »Ich bin Kurde«, sagt ein zweiter, »Da müssen Sie in Kreuzberg oder Neukölln fragen, in Wedding ist niemand für Erdogan«, ein dritter. Der Baklava-Bäcker ist regelrecht empört: »Wie kommen Sie darauf, dass ich Erdogan gewählt habe?« Der Halal-Fleischer wiegelt ab: »Ich möchte nicht über Politik sprechen«, tut es dann doch - aber Erdogan gewählt hat auch er nicht.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Beim Verfassungsreferendum im April hat eine knappe Mehrheit der in Berlin lebenden türkischen Staatsbürger für Erdogans Entwurf gestimmt: 50,3 Prozent der Wähler sagte »Ja«. Bei den Parlamentswahlen im November 2015 setzte ebenfalls fast jeder Zweite (48,47 Prozent) sein Kreuz bei Erdogans Partei AKP. Damit wies Berlin zwar verglichen mit anderen deutschen Großstädten die geringste Dichte an Erdogan-Anhängern auf, doch die relative Mehrheit war es trotzdem.

Und so lassen sich auch nach einiger Suche zwei Anhänger finden. Keine Fotos von ihnen, keine echten Namen sollen in der Zeitung zu sehen sein, neben den knappen Wahlergebnissen weitere Anzeichen dafür, dass auch die im Ausland lebenden Türken in dieser Frage mindestens gespalten sind. Und mit dem öffentliche Bekenntnis für ihren Präsidenten reale Bedrohung einhergeht.

Beide entsprechen nicht dem Klischee, das hierzulande über Erdogan-Anhänger gehegt wird. Sie könnten gegensätzlicher kaum sein. Der eine, nennen wir ihn Halit Aybolik, ist Kurde, die andere, Betül Güneş, Berlinerin. Der eine hat bald sechs Kinder, die andere hat keins. Der eine ist gelernter Mechaniker, der 1990 nach Deutschland kam, um erst als Fußbodenverleger und nun in einem Spätkauf zu arbeiten. Die andere ist Bachelorstudentin der Biologie an der Freien Universität Berlin, die die Türkei nur aus dem Urlaub kennt. Doch sie haben eines gemein: Sie haben Erdogans gewählt. Warum?

»Er hat das Gesundheitssystem verbessert«, sagt Studentin Güneş. »Man merkt, dass die Straßen besser geworden sind, der Verkehr, das Schulsystem.« Letzteres wisse sie von ihren Cousins und Cousinen, die in der Türkei lebten. Auch die Bürokratie sei abgebaut worden. »Erdogan fördert ein System, das das Alltagsleben erleichtert.« Auch sein starkes Auftreten beeindrucke sie. »Er tritt für seine Meinung ein und lässt sich nicht verbiegen - das würde ich mir auch für Deutschland wünschen.«

»Erdogan hat aus der Türkei ein Beispielland gemacht«, sagt der Angestellte Aybolik. »Jetzt können die Menschen alles kaufen. Vorher haben sich die Präsidenten alles in die Tasche gesteckt. Nun gibt es Straßen, Krankenhäuser, Flughäfen und Schulen. Das Verkehrschaos ist auch zurückgegangen.« Warum ihn das interessiert, wo er doch seit 27 Jahren in Deutschland lebt? »Meine ganze Familie lebt da. Wenn es ihr gut geht, geht es mir auch gut.« Dass er Kurde ist, stehe seiner Wahl nicht im Wege. »Erdogan hat nichts gegen Kurden, er hat etwas gegen Terroristen, die das Land spalten wollen. Erdogan hat gemacht, dass wir unsere Sprache sprechen dürfen, auf der Straße, im Fernsehen. Mein Vater kann jetzt die Nachrichten verstehen - früher war das verboten.«

Aybolik und Güneş sind für die AKP wichtig. Sie sind zwei von rund fünf Millionen Auslandstürken, zwei von rund drei Millionen, die in Deutschland leben, von denen etwa 1,41 Millionen stimmberechtigt sind. Vom »viertgrößten Wahlbezirk« ist in den Medien die Rede. Doch mobilisieren konnte der Wahlkampf im April noch nicht einmal die Hälfte von ihnen: Nur 46,2 Prozent gingen zur Wahlurne. Bei den Parlamentswahlen 2015 waren es sogar nur 41 Prozent gewesen. Warum Migranten seltener wählen gehen, dazu gibt es in der Forschung bereits einige Erklärmodelle. Zum Wahlinhalt fehlen sie aber bislang fast völlig.

Hacı-Halil Uslucan ist einer der wenigen, die herausfinden wollen, warum so viele Türkeistämmige die AKP wählen. Uslucan ist selbst in der Türkei geboren, Kind eines sogenannten »Gastarbeiters«. Heute ist der Psychologe und Migrationsforscher Inhaber der Professur für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen und Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.

Vergleicht man das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken im April mit anderen im Ausland lebenden Türken, sieht man, dass die Mehrheiten nicht überall gleich sind: In der Schweiz, in Schweden und Großbritannien stimmte die Mehrheit gegen die Verfassungsreform, ebenso in den USA und Australien. Der Faktor Migration allein kann also nicht ausschlaggebend sein.

Eine Erklärung Uslucans ist die sinkende »Heimatverbundenheit« mit Deutschland. »Die Erwartungshaltung ist ja, dass die Verbundenheit zunehmen würde, je länger die Menschen hier leben«, sagt er. Doch das Gegenteil sei der Fall. Seit 1999 hat der Forscher Türkeistämmige in Nordrhein-Westfalen nach ihren Einstellungen befragt. Dieses Bundesland ist ausschlaggebend: Hier lebt ein Drittel der türkischen Migranten. Das Ergebnis: Während 2010 noch 40 Prozent der Befragten sagten, sie fühlten sich mit beiden Ländern gleich verbunden, waren es 2015 nur noch 30 Prozent.

Was war passiert? Zum einen werden die Auslandstürken von Erdogan verstärkt umworben: Erst seit 2011 können sie überhaupt in deutschen Konsulaten wählen, vorher mussten sie dafür bis an die türkische Grenze oder ins Land selbst reisen. 2011 war auch das Jahr, in dem die rechtsextreme Terrorzelle NSU sich selbst enttarnte, die acht türkischen Staatsbürger ermordet hatte. Die Enttäuschung über den deutschen Staat war maßlos. Uslucan sagt aber auch: »Die öffentliche Debatte über die angeblich gescheiterte Integration von Türken führt dazu, dass sich viele Türkeistämmige hierzulande nicht zugehörig fühlen.« Diskriminierung als Grund für eine stärkere Identifikation mit dem Herkunftsland - stimmt das?

»Ich bin eher deutsch«, sagt Güneş. »Berlin ist meine Stadt. Aber ich kann mir vorstellen, in die Türkei zu gehen. Man spürt, dass es hier nicht so gesehen wird, dass man eine Deutsche ist. Meine Generation lebt in einem Zwiespalt.« Zum Beispiel das Kopftuch, das sie trägt. Damit dürfte sie in Berlin keine Grundschullehrerin werden. »Was vermittelt man denn da den Kindern?«, will sie wissen. »Man sagt, man lebe in einer Demokratie, aber verbietet, die persönlichen Werte auszuleben?« Erdogan hingegen habe das Kopftuch wieder erlaubt: Lehrerinnen, Ärztinnen, Anwältinnen. Mit Islamisierung habe das nichts zu tun, im Gegenteil: »Er hat die Demokratie im Alltag vorangetrieben. Alles andere ist undemokratisch. Es muss doch jede selbst entscheiden können, ob sie das Kopftuch tragen will.«

Aybolik hingegen wehrt sich, dass sein Wahlverhalten etwas mit seiner Diskriminierungserfahrung zu tun haben könnte: »Ich habe Erdogan für das gewählt, was er für sein Land getan hat.« Weder er noch seine Kinder wollten zurück. Eine Tochter sei Apothekerin, die andere Architektin - »die wollen nicht in der Türkei leben, da bekommen sie nur 1200 Euro im Monat«.

Migranten und ihre Kinder, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, hier bleiben wollen und wählen gehen, werden auch für die deutsche Politik interessanter. Doch warum migrantische Wahlberechtigte - immerhin 5,8 Millionen Menschen - welche Partei wählen, darüber ist genauso wenig bekannt. Umfragen kosten Geld, und dass Migranten bei den Wahlen den entscheidenden Unterschied machen können, spricht sich erst langsam herum. Aufgrund der geringen Fallzahlen konnten bisher nur exemplarische, nicht aber repräsentative Aussagen über das Wahlverhalten getroffen werden. Das sollen nun zwei Studien ändern.

Zum ersten Mal soll es eine »Migrantenwahlstudie« zur Bundestagswahl im September geben: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert ein entsprechendes Projekt der Universität Duisburg-Essen, das seit Oktober Migranten fragt, wie sie Politiker bewerten und welche Themen sie interessieren. Im Fokus stehen die beiden größten Gruppen: je 500 Türkeistämmige und russischsprachige Spätaussiedler. Bei den Russlanddeutschen überwiegt die Frage, warum sie sich verstärkt für die AfD aussprechen. Die erste Auswertung wollen die Macher im Frühjahr 2018 veröffentlichen.

Gerade abgeschlossen ist hingegen die Studie »Schwarz, rot, grün - welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?« Die Bundesregierung hat über den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration erstmals genauer untersucht, welche Parteien welche Zuwanderer bevorzugen. Dabei kam heraus, dass Türkeistämmige zu fast 70 Prozent die SPD wählen. Erklärt wird dies damit, dass sich die Sozialdemokraten für die doppelte Staatsbürgerschaft und einen erleichterten Familiennachzug einsetzen. Dabei kommt es bei dieser Gruppe ausnahmsweise nicht auf den Bildungsgrad an: selbst Bildungsferne votierten in drei von vier Fällen für die Sozialdemokraten. Grüne folgen mit 13,4 Prozent, die LINKE bekommt 9,6 Prozent, weit abgeschlagen sind CDU/CSU mit 6,1 Prozent.

Sowohl Aybolik als auch Güneş favorisieren die SPD: Der eine nur in der Theorie, denn er hat lediglich die türkische Staatsbürgerschaft, die andere auch in der Praxis. Warum? »Die SPD ist sozial«, sagt die Studentin. »Ich hoffe, sie denkt mehr an die Menschen anstatt an die Politiker oder die Oberschicht.« Doch so richtig vermag sie keine Unterschiede zwischen den Parteien zu erkennen. »In Deutschland finde ich alles so Wischiwaschi. Was wollen die Politiker hier erreichen? Wie krumm die Gurken sein dürfen? Das kommt mir alles sehr viel relaxter vor. Als ob es gar keine zwei Lager gibt, sondern eigentlich nur eins.«

Hier SPD wählen, dort AKP, ist das nicht ein Widerspruch? Der Wahlforscher Uslucan versucht, ihn zu erklären: Er vermutet, dass sich die Türkeistämmigen bei den deutschen Wahlen eher von pragmatischen Überlegungen und Eigeninteressen leiten lassen - SPD und Grüne setzten sich eben vermehrt für die Belange von Minderheiten ein. »Es ist eine strategisch kluge Wahl, diejenigen zu wählen, die die bessere Integrationspolitik machen«, sagte er. Bei der Türkeiwahl wählten sie hingegen »wertetreu«.

Güneş jedoch empfindet keinen Widerspruch. Zum einen fehle es ihr an einer Alternative - die HDP wolle »nur gegen Erdogan sein, die haben keine Argumente«. Zum anderen sei Erdogan nicht anti-liberal, wie es zum Beispiel anhand des Abtreibungsverbotes hingestellt worden sei: »Man muss sich den Gesetzestext genau anschauen. Es gibt ganz viele Ausnahmen.«

Aybolik könnte genauso gut die CDU wählen, sagt er. Er hält viel von Angela Merkel, »Sie ist ein wirklich netter, freundlicher Mensch. Wenn man die Weltpolitik anschaut, ist sie spitze.« Und die anderen Parteien? »Die kann man in der Pfeife rauchen.« Selbst die Grünen, angeblich zweitliebste Partei der Türken? »Cem Özdemir ist ein Terrorist. Das würde ich ihm auch ins Gesicht sagen.«

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