Erdogan trifft Nasreddin

Eine Geschichte der Missverständnisse zwischen Geist und Macht. Nach dem Hörensagen aufgezeichnet von Karlen Vesper

Dem türkischen Präsidenten war zu Ohren gekommen, dass im Zug der Tausenden von Ankara nach Istanbul auch Hodscha Nasreddin gesichtet worden sei. Erdoğan schickt seinen Geheimdienstchef los, den legendären Geschichtenerzähler aus dem 13. oder 14. Jahrhundert zu sich zu bringen. Ungeduldig harrt er an einem Fenster seines prächtigen Palastes aus. Am dritten Tag sichtet er einen alten Mann, der auf einem Esel angeritten kommt - rücklings auf diesem sitzend. Erdoğan wird von einem Lachkrampf geschüttelt: »Nun schaut euch bloß diesen Alten an! Er sitzt auf seinem Esel verkehrt herum!« Der Hodscha lächelt: »Gepriesen sei Gott! Jedermann sagt, ich sitze auf dem Esel verkehrt herum. Aber niemand bemerkt, dass der Esel verkehrt herum geht und steht.«

Erdoğan winkt einen Bediensteten heran, Nasreddin zu ihm zu geleiten. Er will von ihm wissen, warum ihm niemand glaubt, dass der Putsch vor einem Jahr von einem Prediger in der Ferne befohlen wurde. Nasreddin antwortet: »Das weiß ich nicht. Frag deinen obersten Schlapphut.« Worauf Erdoğan verärgert bemerkt: »Und du willst ein Gelehrter sein? Du solltest dich des Turbans schämen, den du trägst!« Daraufhin nimmt der Hodscha seine Kopfbedeckung ab, setzt sie dem Präsidenten auf und sagt: »Wenn du meinst, der Turban sei allwissend, dann lass dir doch von diesem eine Antwort geben!« Erdogan würde den vorwitzigen alten Mann am liebsten in das finsterste Verlies seines Imperiums werfen. In letzter Minute besinnt er sich: Nasreddin könnte das Fest, das er am Abend gekrönten und ungekrönten Staatsoberhäuptern aus aller Welt geben wird, um den Jahrestag der Niederschlagung des Putsches zu feiern, mit lustigen Anekdoten würzen. Er kann den Narren auch am nächsten Tag noch einsperren und foltern lassen. Gedacht, getan.

Der Hodscha erscheint also zum Bankett. »Oh, ihr wahren Gläubigen«, hebt er an, »wisst ihr, worüber ich euch heute erzählen werde?« »Wir haben keine Ahnung«, antworten Erdogan und seine Gäste unisono. »Nun, wenn ihr überhaupt keine Ahnung habt, warum soll ich dann zu euch reden?« Mit dieser Bemerkung tritt der Hodscha vom Rednerpult zurück, doch man entlässt ihn nicht. So beginnt er erneut: »Oh, ihr wahren Gläubigen, wisst ihr, worüber ich euch erzählen werde?« »Ja«, antworten die Klugen im Publikum. »Nun, wenn ihr es schon wisst, warum soll ich dann noch reden?«, erwidert Nasreddin und will sich aus dem Staube machen. Gnadenlos wird er aufgehalten und stellt erneut dieselbe Frage. Jetzt dünkt sich Erdogan besonders schlau und sagt: »Einige von uns wissen es, und einige wissen es nicht.« Da antwortet der Hodscha: »In diesem Fall lasst diejenigen, die es wissen, es denen erzählen, die es nicht wissen.«

Da Nasreddin gesättigt ist, will er nach Hause reiten. Doch die Palastwache führt ihn wieder in den Festsaal: »Unser aller erlauchter großer und weiser Herrscher, Sultan Recep Tayyip, besteht darauf, dass du seine Rede anhörst.« Als jener dazu ansetzt, rennt der Hodscha hinaus, wie vom Teufel besessen. Erdogan brüllt ihm nach: »Wo läufst du hin, Hodscha?« Der schreit zurück: »Du hast das lauteste Stimmorgan, das ich je vernahm. Ich will herausfinden, bis in welcher Entfernung ich dich noch hören kann!«

Und fort war Hodscha Nasreddin. Er ward in Erdogans Reich nimmer wieder gesehen.

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