Peter Neuhof: Ein Hundertjähriger erzählt

Die Erinnerungen des Peter Neuhof: »Als die Braunen kamen. Eine jüdische Familie im Widerstand«

Peter Neuhof spricht auf einer Gedenkkundgebung der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) am Mahnmal Levetzowstraße zur Erinnerung an das Novemberpogrom von 1938.
Peter Neuhof spricht auf einer Gedenkkundgebung der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) am Mahnmal Levetzowstraße zur Erinnerung an das Novemberpogrom von 1938.

Der 3. Oktober 1941 ist ein sommerlich warmer Herbsttag. Ein Mann sitzt vor einem Zeichenblock und lässt aus Wasserfarben inmitten märkischer Landschaft ein Bild entstehen. Kein Meisterwerk. Keine große Kunst. Auch nicht für die Nachwelt gedacht. Erinnerung an Stunden im Tegeler Wald. Und dennoch nicht irgendein Bild«, berichtet Peter Neuhof. Und weiter: »3. Oktober 1991 – ein halbes Jahrhundert später. Wie schon so oft blicke ich auf ein langsam verblassendes Aquarell. Es hat die Zeit und den Maler überdauert, der es einst seinem Freund schenkte.«

3. Oktober. Landauf, landab euphorisch als »Tag der Einheit« gefeiert. Vor 35 Jahren wurde »Deutschland wiedervereint«, wie es historisch nicht ganz korrekt heißt. Zwei souveräne Staaten wurden eins. Oder doch nicht so richtig. Der kleinere deutsche Staat trat dem größeren deutschen Staat bei, beide Jahrgang 1949. Kinder des Kalten Krieges, hervorgegangen aus dem Bruch der Antihitlerkoalition. Die Spaltung, Folge einer zwölfjährigen, mörderischen Diktatur in Deutschland, die sechs lange Jahre Europa in blutiger Knechtschaft hielt. Diese Vorgeschichte des 3. Oktober 1990 blitzte nicht bei den »Einheitsfeiern« auf.

»Durch den Tegeler Wald wandern an jenem 3. Oktober 1941 zwei Männer, für Stunden der Zwangsarbeit entronnen«, fährt Peter Neuhof in seiner Erzählung fort. »Sie sind Juden. Sie wissen, was ihnen und ihren Familien bevorsteht. Die Nazis haben es oft genug und lautstark verkündet … Sie führen ein Leben zwischen Angst und Hoffnung. Die Hoffnung schwindet immer mehr … Die beiden – der eine Architekt, der andere Getreidehändler – haben schon lange Berufsverbot. Mit der Pogromnacht kam das endgültige Aus. Jetzt müssen sie in der ›Judenkolonne‹ der Farbenfabrik Warnecke & Böhm in Weißensee Zwangsarbeit leisten … Die beiden Freunde entweichen für wenige Stunden der Fronarbeit … Sie fahren hinaus in den Tegeler Forst. Sie laufen kreuz und quer, sprechen über ihre Lage. Wer soll Juden noch retten? … Sind die Faschisten nicht aufzuhalten? Gibt es niemanden, der sie niederringt? Wo bleibt die Rote Armee? Verzweiflung, Resignation.« Der Architekt hieß Ullrich Meyer. Er schenkte sein Aquarell dem Vater von Peter Neuhof. »Die Spuren der beiden werden in den Gaskammern und Krematorien verloren gehen.«

Peter Neuhof beging am 30. Juli dieses Jahres seinen 100. Geburtstag. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten richtete eine Geburtstagsfeier für ihn aus; der Salon im Haus am Franz-Mehring-Platz in Berlin-Friedrichshain konnte die Menschen kaum fassen, die gekommen waren, um dem Westberliner Journalisten und Mitbegründer der VVN-BdA persönlich zu gratulieren, darunter die Linkspolitikerin Petra Pau. Der Jubilar konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein, wurde aber per Video eingeblendet. Seine Botschaft an die Anwesenden: ein leidenschaftlicher Appell, heutigen Rechtsextremen und Rechtspopulisten sowie deren Hintermännern weder Straßen noch Plätze, weder Hirne noch Herzen zu überlassen.

Den Part, der dem Veteranen zugedacht war, übernahm Jutta Harnisch vom VVN-BdA. Sie las Passagen aus den Erinnerungen Peter Neuhofs vor: »Als die Braunen kamen. Eine jüdische Familie im Widerstand«. Tammo Wetzel vom Kölner Papyrossa-Verlag berichtete stolz und selbst noch überrascht, wie es gelungen ist, innerhalb von zwei Wochen diese in einer Neuauflage auf den Buchmarkt zu bringen, rechtzeitig zum 100. Dank auch der Unterstützung des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin sowie der Gedenkstätte Sachsenhausen. In dem KZ bei Oranienburg wurde Peters Vater, Karl Neuhof, Mitglied eines kommunistischen Widerstandsnetzes, am 15. November 1943 ermordet. Mutter Gertrud kam ins Frauen-KZ Ravensbrück, wurde auf dem »Todesmarsch« Anfang Mai 1945 befreit. Sohn Peter, der allein im elterlichen Haus in Frohnau verblieb, versuchte die antifaschistische Arbeit seiner Eltern fortzuführen, verteilte unter anderem Flugblätter in seinem Ausbildungsbetrieb.

Vor drei Jahren hat Peter Neuhof das Tagebuch und die Briefe seines Vaters aus dem KZ veröffentlicht, im Westberliner Metropol-Verlag, dessen Gründer (1988) und Leiter Friedrich Veitl selbstredend auch zur Geburtstagsfeier erschien. Ebenso Lilo Joseph, Mitstreiterin von Peter Neuhof, die wie er für den Rundfunk der DDR über die Berliner Mauer hinweg und durch den Eisernen Vorhang journalistische Beiträge aus dem »Westen« lieferte. Sie gab lebhaft und frohgemut Anekdoten aus dem gemeinsamen Kampf gegen rechten Ungeist und rechte Aufmärsche kund.

Peter Neuhof ist einer der letzten Zeugen faschistischen Terrors in Deutschland 1933 bis 1945. Diese Zeitung schätzt sich glücklich, dass er ihr zum 80. Jahrestag der Befreiung im Mai seine Geschichte erzählte.

Peter Neuhof: Als die Braunen kamen. Papyrossa, 379 S., br., 24,90 €.

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