Bei Anruf Erdogan

Türkischer Präsident schaltet sich am Jahrestag des Putschversuchs in Handys ein / Bereitschaft zur Wiedereinführung der Todesstrafe bekräftigt

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Istanbul. Zum Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei hat sich Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einer politischen Botschaft in die Handys seiner Landsleute eingeschaltet. Die Kunden der wichtigsten Handy-Anbieter Turkcell und Vodafone hörten am Samstag eine aufgenommene Ansage Erdogans, wenn sie versuchten, jemanden anzurufen. »Als Präsident überbringe ich Ihnen meine besten Wünsche zum Tag der Demokratie und der nationalen Einheit«, mussten die Handy-Nutzer sich anhören. Erdogan gedachte der Opfer des Putsches und wünschte den »Helden« des Widerstands alles Gute.

In den sozialen Netzwerken sorgte das noch nie dagewesene Vorgehen des Präsidenten für reichlich Reaktionen. Während die Anhänger des islamisch-konservativen Staatschefs, dem von seinen Kritikern ein autoritäres Vorgehen vorgeworfen wird, die Botschaft von Erdogan begrüßten, sprachen seine Gegner von einem Eingriff in die private Telekommunikation. »Es reicht. Jetzt schaltet er sich sogar in unsere Telefone ein. Das ist ein Albtraum«, schrieb der Abgeordnete der Oppositionspartei CHP, Aykut Erdogdu, im Onlinedienst Twitter.

Wie könnte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen?

Die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei wurde 2004 in Artikel 38 der Verfassung verankert - vor Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr darauf. Für die Wiedereinführung wäre also eine Verfassungsänderung notwendig. Dafür würde eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament benötigt (367 der 550 Sitze).

Mit einer 60-Prozent-Mehrheit der Stimmen (330 Sitze) wäre ein Referendum möglich, das dann nur eine einfache Mehrheit im Volk bräuchte. In jedem Fall wäre die islamisch-konservative Regierungspartei AKP (317 Sitze) von Staatschef Recep Tayyip Erdogan auf Unterstützung aus der Opposition angewiesen.

Die ultranationalistische MHP (36 Sitze) ist ebenfalls für die Todesstrafe, Parteichef Devlet Bahceli hat Erdogan in der Vergangenheit bei mehreren Vorhaben unterstützt. Gemeinsam hätten AKP und MHP genug Stimmen, um eine Volksabstimmung in die Wege zu leiten. Präsident Erdogan hat bereits angekündigt, dass er ein entsprechendes Gesetz unverzüglich unterzeichnen würde. Um die Putschisten vom vergangenen Jahr hinzurichten, wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht ausreichend. In Artikel 38 der Verfassung ist auch der Grundsatz verankert, dass niemand schwerer bestraft werden darf als die zum Zeitpunkt der Tat angedrohte Strafe. Die Strafe darf also nicht rückwirkend höher ausfallen.

Der gleiche Grundsatz findet sich in Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die die Türkei unterzeichnet hat. In Zusatzprotokollen verpflichteten sich die Staaten zudem zur Abschaffung der Todesstrafe. Der für Menschenrechtsfragen zuständige Europarat hat deshalb ankündigt, dass die Türkei bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe nicht mehr Mitglied sein könnte. Auch die EU will die Beitrittsverhandlungen mit Ankara dann beenden. dpa/nd

Direkt nach dem fehlgeschlagenen Putsch am 15. Juli vergangenen Jahres hatten Millionen Türken eine SMS ihres Präsidenten erhalten. Damals hatte er dazu aufgerufen, den »heroischen Widerstand« fortzusetzen - unterschrieben mit »R. T. Erdogan«.

Erdogan kündigt unnachgiebiges Vorgehen gegen »Putschisten« an

Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei hat Erdogan zudem ein unnachgiebiges Vorgehen gegen die von ihm ausgemachten Putschisten und deren Hintermänner angekündigt. »Sowohl die elenden Putschisten als auch jene, die sie auf uns gehetzt haben, werden von nun an keine Ruhe mehr finden«, sagte Erdogan bei einer Ansprache am Sonntagmorgen vor dem Parlament in Ankara. Er bekräftigte zugleich seine Bereitschaft zur Wiedereinführung der Todesstrafe, wofür eine Verfassungsänderung nötig wäre.

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Bei einer Gedenkfeier in Istanbul hatte Erdogan kurz zuvor gesagt, er wisse, wer hinter Terrororganisationen wie der Gülen-Bewegung, der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) stehe. »Diesen Verrätern werden wir zuerst die Köpfe abreißen.« Es werde »kein Verräter ungestraft« bleiben. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Gülen weist das zurück.

Parlamentspräsident Ismail Kahraman nannte Gülen einen »geisteskranken Schizophrenen« und sagte: »Volk, Fahne, Koran, Glaube, Gebetsruf, Freiheit, Unabhängigkeit sind unsere Ehre, unsere Würde. Denjenigen, die unsere Werte angreifen, brechen wir die Hände, schneiden ihnen die Zunge ab und vernichten ihr Leben.« Kahraman gehört der Regierungspartei AKP an, der Erdogan vorsteht.

Erdogan betonte in Ankara, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe würde er sofort zustimmen. »Wenn es ins Parlament kommt - und ich glaube daran, dass es vom Parlament verabschiedet wird - und wenn es vom Parlament verabschiedet wird und zu mir kommt, werde ich das ohne Zögern bewilligen«, sagte er. »Und ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George dazu sagen. Ich achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ayse, Fatma und Hatice sagen.«

Mit »Hans und George« spielt Erdogan auf EU-Staaten wie Deutschland und Großbritannien an. Die EU hat deutlich gemacht, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe das Ende des Beitrittsprozesses bedeuten würde. Erdogan übte in einer dritten Ansprache nach dem Morgengebet in Ankara scharfe Kritik an der EU, der er vorwarf, die Türkei seit 54 Jahren vor der Türe stehen zu lassen. »Immer noch machen sie sich über uns lustig«, sagte Erdogan. »Die Versprechen, die sie gegeben haben, halten sie nicht.«

Erdogan kündigte an, dass Untersuchungshäftlinge, die der Beteiligung am Putschversuch beschuldigt werden, künftig Uniformen ähnlich derer der Insassen im US-Gefangenenlager in Guantanamo tragen sollten, wenn sie vor Gericht erscheinen. »Ich sage, ziehen wie denen nun, so wie in Guantanamo, eine spezielle Kleidung an und so sollen sie dann auch vor Gericht erscheinen. Herausgeputzt vor Gericht zu erscheinen, so etwas kann es nicht geben.«

Im Zusammenhang mit dem Putschversuch sitzen derzeit mehr als 50.000 Verdächtige in Untersuchungshaft. Rund 150.000 Staatsbedienstete wurden seit dem Putschversuch entlassen oder suspendiert. Erdogan forderte die Bürger dazu auf, mutmaßliche Gülen-Anhänger den Sicherheitskräften zu melden. »Jeder soll sagen, was er weiß«, sagte er. »Niemand soll sich davor scheuen, deren Namen zu nennen.«

Am Samstag war das Parlament zu einer Sondersitzung zum Gedenken an die Niederschlagung des Putsches zusammengekommen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kritisierte die Regierung dabei scharf. »Die Justiz wurde zerstört«, sagte der Chef der kemalistischen CHP. »Statt einer schnellen Normalisierung haben sie einen bleibenden Ausnahmezustand erschaffen.«

Erdogan kündigte am Sonntagmorgen an, der Ausnahmezustand werde kommende Woche ein viertes Mal verlängert. Er erhob zugleich schwere Vorwürfe gegen Kilicdaroglu, dem er unter anderem vorwarf, gemeinsame sache mit Putschisten zu machen.

An der nächtlichen Veranstaltung vor dem Parlament in Ankara nahmen die beiden größten Oppositionsparteien - die CHP und die pro-kurdische HDP - nicht teil. In der ganzen Türkei wird am Wochenende an die Niederschlagung des blutigen Putsches vor einem Jahr erinnert. Die Gedenkveranstaltungen sollen bis Mitternacht in der Nacht zu Montag andauern. AFP/nd

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