Siegen statt Verlieren

Statistisch kommt die einstige Residenz der Nassauer an der Sieg mittelmäßig daher - doch das täuscht

  • Harald Lachmann, Siegen
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Städte, denen ein beharrliches Negativimage anhaftet. Selbst wenn sich hierfür kaum sachliche Gründe finden lassen, gelten sie als trist, bedrückend, gar hässlich und werden so immer wieder zum Gespött von Kabarettisten und Autoren. Das hessische Kassel gehört für manchen dazu, das fränkische Fürth - oder auch Siegen. »Was ist schlimmer als verlieren? Siegen!«, lautet ein böses Bonmot, dessen sich die südwestfälische Stadt seit Jahrzehnten zu erwehren hat.

Verstärkt wurde das Etikett durch diverse Zukunftsrankings, wie sie immer wieder mal durch die Medien geistern. So bilden laut dem Forschungsinstitut Prognos die Stadt Siegen und ihr Umland das personifizierte Mittelmaß unter 402 analysierten kreisfreien Städten und Landkreisen: Ob Geburtenrate oder Zahl der Schulabbrecher, Arbeitslosigkeit oder Unternehmensgründungen, Wohlstand, Kultur oder Patentquote - nirgends gibt es Ausreißer nach oben oder unten. Willkommen bei Frau und Herrn Mustermann.

Dabei verfügt das Oberzentrum an der Sieg über gleich zwei kleine Schlösser, ein Theater, ein Kunstmuseum, dazwischen traute Altstadtgässchen mit gemütlichen Schenken, eine 104 Meter hohe Brücke sowie eine Universität, deren Studentenzahl sich in den letzten Jahren auf knapp 20 000 verdoppelte.

Wie Rom wurde Siegen auf sieben Hügeln errichtet - und auf dem siebten, dem Siegberg, thront das Obere Schloss. Hier im Siegerlandmuseum darf der Besucher sogar neun echte Gemälde von Peter Paul Rubens bestaunen. Welch Wunder: Der barocke Malerstar kam 1577 in Siegen zur Welt. Sein schmales, schindelverziertes Geburtshaus überlebte indes den letzten Krieg nicht. Dafür lobt die Stadt im Gedenken an den großen Sohn alle fünf Jahre einen Rubenspreis aus.

Mag sein, dass in Siegen wegen der einstigen adeligen Enge in der Residenzstadt der Nassauer recht lange die Zeit stehen blieb. Auch in den 1970er Jahren setzten die Rathausoberen eher nicht auf Zukunft, als sie das Zentrum mit uniformen Einkaufspassagen, Park- und Geschäftshäusern zupflasterten und die namensgebende Sieg gar über Hunderte Meter unter eine Asphaltdecke verbannten.

Doch inzwischen öffnet sich der Fluss zu neuen Ufern. Die Betondeckel über ihm - sie dienten lange als Parkfläche - sind schon weitestgehend wieder entfernt. Das ohnehin in ein Tal gezwängte Siegen schafft sich so einen »neuen erlebbaren Raum im Zentrum«, wie die Stadt bereits 2013 zur Projektschau »Südwestfalen-Regionale« warb. Da das Land Nordrhein-Westfalen damit zugleich einen messbaren Beitrag zur Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie leistet, schießt die Regierung in Düsseldorf gleich noch knapp drei Millionen Euro zur Flussbefreiung zu. Ein lukrativer Deal für Siegen, das zu der aufwendigen Aktion nur 232 700 Euro selbst beisteuern muss.

Gerade die Studenten bevölkern nun die neuen Uferwiesen, auch wenn Spötter weiter sticheln, dass die jungen Leute die Stadt nach dem Unidiplom schnell wieder verließen. Denn allenfalls Maschinenbauer, wie Ingenieure überhaupt, fänden hier eine berufliche Zukunft, heißt es. Da mag einiges dran sein. Recherchen der IHK Siegen zufolge jedenfalls etablierten sich im Mittelstand der Region inzwischen nahezu 150 sogenannte Hidden Champions, also Weltmarktführer in einer speziellen Fertigungsnische.

Doch auch dem geistigen Leben der Stadt tun die jungen Leute gut. Waren es doch Studenten der Universität, die 2009 mit »vielSeitig« ein zweijährliches Europäisches Literaturfestival in Siegen etablierten. Inzwischen zieht es hierzu Autoren aus aller Welt an die Sieg.

Selbst die Hoffnung, irgendwann wieder Großstadt zu werden, knüpft man im Rathaus - wo die LINKE mit vier Abgeordneten übrigens ebenso stark wie die FDP ist - an das studierende Volk. Denn nachdem Siegen mit dem Zensus von 2011 unversehens unter die 100 000-Einwohne-Marke gerutscht war, peilt man hier nun wieder ehrgeizig die Sechsstelligkeit an. Längst wächst die Stadt wieder - gerade dank steigender Studentenzahlen. Ist die Großstadtmarke erst wieder erreicht, kann Siegen auch mit deutlich höheren Schlüsselzuweisungen des Landes rechnen und allein bei den Konzessionsabgaben mit einem jährlichen Plus um 900 000 Euro kalkulieren.

Auch im Stadtbild erinnert nur noch sehr wenig daran, dass Siegen Ende 1944 nach einem verheerenden Bombenangriff zu vier Fünfteln in Schutt und Asche lag - in der Stadt und ihrem Umfeld hatte sich eine starke Rüstungsindustrie etabliert. Inmitten der Altstadt stößt man jedoch noch immer auf einige übergroße Betonquader, die hier wie Fremdkörper wirken. Es sind Hochbunker mit meterdicken Mauern, die der letzte NS-Oberbürgermeister zum Schutz vor Fliegerangriffen errichten ließ. Elf waren es einst. Einer der Klötze direkt neben dem Oberen Schloss hat sogar selbst ein wenig die Form eines Adelsbaus.

Nach dem Krieg blieben die Anlagen stehen: Ihr Abriss schien zu teuer, eine Sprengung im engen Stadtgebiet zu gefährlich. So dienen einige heute als Lager, andere wurden mit Wohnungen überbaut - und ein Bunker am Obergraben dokumentiert heute als Aktives Museum Südwestfalen mit dem Schwerpunkt »Jüdische Geschichte im Kreis Siegen-Wittgenstein« die regionale Nazivergangenheit.

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