Türkei im dauernden Ausnahmezustand

Erdogans Ziele: Umerziehung und Re-Islamisierung

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs am 15. Juli 2016 hatte damals auch die Opposition im Parlament der Verhängung des Ausnahmezustandes zugestimmt. Damit wurde eine Welle der Repression gerechtfertigt, die weit über die unmittelbaren Unterstützer des Putsches hinausging. Es sieht so aus, als sollte die Gesellschaft mit Hilfe des Ausnahmerechts, das gerade wieder für drei Monate verlängert wurde, neu formiert werden.

Die vorläufige Bilanz stellt sich nach einem Jahr so dar: Es wurden 111 000 Menschen aus dem öffentlichen Dienst entlassen und 32 000 suspendiert. Von beiden Gruppen wurden bisher allerdings 35 000 wieder eingestellt. Macht noch immer weit über 100 000, die ihre Arbeit verloren haben und dieserart öffentlich gebrandmarkt, auch von privaten Arbeitgebern kaum eingestellt werden.

Insbesondere Lehrer wurden aus dem Staatsdienst entlassen, mittlerweile 33 000. Von ihnen wurden auch über 4700 inhaftiert. Dazu kommen 20 000 Lehrkräfte an privaten Bildungseinrichtungen, denen die Lehrberechtigung entzogen wurde. An den Universitäten wurden über 5000 Akademiker entlassen. Alle 1577 Dekane türkischer Universitäten mussten zurücktreten. Die Rektorenwahlen wurden abgeschafft. Der Präsident ernennt nun die Rektoren völlig nach Gutdünken. Außerdem wurden 15 private Universitäten geschlossen. Durch diese Maßnahmen wurden weitere 6000 Menschen über Nacht arbeitslos.

Insgesamt wurden Verfahren gegen 170 000 Personen eingeleitet, oft nur wegen Bemerkungen im Internet. 50 000 wurden in Untersuchungshaft genommen. Dem ging kurz nach Verhängung des Ausnahmezustandes eine großzügige Amnestie für nichtpolitische Häftlinge voraus. Damit wurde Platz für noch mehr politische Häftlinge geschaffen.

In Haft kamen auch 2431 Richter und Staatsanwälte, darunter zwei Verfassungsrichter sowie Richter von Yargitay, dem höchsten türkischen Strafgericht und von Danistay, dem höchsten Verwaltungsgericht. Gegen zahlreiche weitere Richter und Staatsanwälte wurden Verfahren eingeleitet. So droht dem Staatsanwalt, der die Anklage gegen die Istanbuler Zeitung »Cumhuriyet« führt, jetzt selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem er selbst »Cumhuriyet« anklagt: Zusammenarbeit mit der Gülen-Bewegung.

Insgesamt sind bislang 110 Medien verboten worden, von denen 20 später wieder zugelassen wurden. Die Regierung hat zudem 715 Presseausweise für ungültig erklärt, 157 Journalisten traf es noch wesentlich härter: Sie wurden in Haft genommen.

Ein Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Parte der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP. Beide Parteien hatten sich den Putschisten entschieden entgegengestellt. Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt. In großem Umfang wurden darüber hinaus Firmen besetzt und Vermögenswerte beschlagnahmt.

Diese Zahlen beschreiben nur einen Teil der Repressionsmaßnahmen seit der Verhängung des Ausnahmezustandes. An ihnen lässt sich aber ungefähr ablesen, wohin die Reise in der Türkischen Republik geht. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen, vor allem Militärangehörige, hat an dem Putsch aktiv teilgenommen. Verantwortlich gemacht werden hingegen alle, die angeblich der Gülen-Bewegung nahe stehen; darunter sogar viele erklärte Gegner des Predigers Fethullah Gülen.

Weitere offenbar gewordene Ziele des Verfolgungswahns sind die Kontrolle über die Justiz, die Medien und schließlich auch den Bildungsbereich. Das betrifft nicht nur den bisher teilweise von Gülen kontrollierten privaten Bildungssektor, sondern auch staatliche Schulen und Universitäten. Wer aber den Bildungsbereich kontrolliert und zwar nicht nur durch Anordnungen, sondern auch mittels massiver Einschüchterung des Lehrpersonals, der bestimmt auf Dauer die ideologische Ausrichtung des Landes.

Nun sprechen alle Anzeichen dafür, dass das Steuer herumgeworfen wird. Eine Re-Islamisierung, entgegen dem Grundanliegen Atatürks, wenn auch sicher mit einigen türkischen Besonderheiten, steht bevor. Sie beginnt nach Erdogans Vorstellung nicht mit der sofortigen Einführung der Scharia, sondern mit der Umerziehung einer Generation.

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