Die Konsistenz des schönsten Schleimes
Sabine Kühne arbeitet als Requisiteurin am Maxim-Gorki-Theater
Während die Berliner Theater zwischen Juli und September in den Sommerschlaf fallen, hat sie noch eine ganze Menge zu tun. »In den nächsten zwei Wochen wird aufgeräumt«, sagt Sabine Kühne, die am Maxim-Gorki-Theater in der Requisite arbeitet. Spezialgebiet: Schriftarten. Kühne ist seit 37 Jahren am Gorki und hat sich unter den KollegInnen einen Namen als Kaligraphieexpertin gemacht. Für Stücke, in denen eine alte Handschrift wie das Altdeutsche für eine Urkunde oder einen Brief gebraucht wird, fertigt sie die Papiere an. Hat sich extra Bücher besorgt und alte Briefe studiert. »Ein anderer Kollege bastelt dafür wie ein Wilder.«
Am 25. und 26. Juli war Kühne noch für ein Gastspiel des Erfolgsstücks »The Situation« von Yahel Ronen in Bregenz, in der Woche davor hat sie unzählige Kisten aus der vergangen Spielzeit vor sich gehabt, die sie alle in die Regale im Magazin sortierte. Einen Überblick, wie viele einzelne Requisiten es im Theater gibt, hat keiner. Das meiste hat Kühne im Kopf. Im »Musik- und Tierraum« steht der ausgestopfte Pavian, im »Kühlschrankraum« nicht nur Kühlschränke, auch Pappen, im Tunnel unter den Linden, der auch zum Theater gehört, die größeren Dinge wie Fahrräder und Schaufensterpuppen.
»Bei Proben jagen die Schauspieler und Regisseure einen ständig durchs Haus. ›Hast du mal eine Peitsche? Kannst du mal schnell dies und das holen?‹« Am schwierigsten war es vor einiger Zeit, auf die Schnelle ein mittelalterliches Folterwerkzeug zu besorgen, das ein Regisseur für unabdingbar hielt. Natürlich hat sie auch das hinbekommen. Bei Aufgaben wie dieser erreicht Kühne den höchsten Grad an Zufriedenheit. »Man muss sehr viel Kreativität mitbringen.« Die größte Herausforderung liegt schon ein paar Jahre zurück. Ein Regisseur verlangte Schleim, der von der Oberbühne auf die Schauspieler herunterkleckern sollte. Der exakte Grad an Zähigkeit und Schleimigkeit trieb die Requisite fast in den Wahnsinn. »Es standen wochenlang in allen Büros und Werkstätten Dutzende Schleimeimer verteilt«, sagt Kühne. Rosa sollte er auch noch sein, mindestens 50 Liter. »Da hat ein Kollege wirklich lange die perfekte Zusammensetzung recherchiert, hat sich immer wieder neue Pröbchen schicken lassen.«
Zuletzt hat sie, die kein Instrument beherrscht, sich das Gitarrenstimmen beigebracht. Im Theater, sagt Kühne, kommt fast kein Stück mehr ohne Instrumente aus, und weil der Schauspieler fürs Stimmen vor der Aufführung keine Zeit hat, übernimmt Kühne die Prozedur.
Am liebsten seien ihr die Stücke mit vielen Umbauten, obwohl das heute nur noch selten vorkommt. »Die Regisseure wollen kein ›Volk‹ auf der Bühne.« Das meiste müssten die SchauspielerInnen inzwischen selbst weg- und umräumen. »Mein Lieblingsstück aus der vergangenen Spielzeit ist ›Winterreise‹ von Yahel Ronen. Ich nenne es nur das ›Kofferstück‹, weil ich den Schauspielern ständig Koffer hinstellen, abnehmen und wieder hinstellen muss.«
An ihren ersten Tag im Gorki kann sich Kühne noch gut erinnern. Gezeigt wurde »Drei Schwestern« von Tschechow in der Inszenierung von Thomas Langhoff, eine der wohl berühmtesten Inszenierungen des Hauses. Langhoff verehrt Kühne bis heute. »Das war ein opulentes Ausstattungsstück, wie ich sie heute sehr vermisse. Das war ein Bühnenbild, das mich umgehauen hat.« Ein ganzes Zimmer musste eingerichtet werden. Bett, Kissen, Geschirr. Alles wurde ständig rein- und rausgeräumt. Kühne war in ihrem Element. »Heute reicht meistens eine schwarze Wand mit Videoinstallation.« Sentimental stimmt sie der Wandel nicht. »Es gibt immer noch tolle Stücke, nur funktionieren die eben anders.« Heutzutage knallt es mehr. Für »Die Räuber«, eine Inszenierung unter Armin Petras, hat Kühne einen Bühnenfeuerwerksschein gemacht. Eine Woche lernte sie alles über Pyrotechnik, chemische Zusammensetzungen, Sicherheit. Eine Bombe kann sie mit dem neuen Wissen zwar nicht basteln, aber immerhin Bühnenwände zum Explodieren bringen.
Kühne ist 1980 als Quereinsteigerin ans Maxim-Gorki gekommen, hat eigentlich Facharbeiterin für Fernsprechverkehr gelernt. Damals sei das am Theater noch problemloser möglich gewesen als heute. Mit den KollegInnen hat sie nach all den Jahren viel erlebt. Am Abend des Mauerfalls kletterte sie mit ihnen aufs Dach des Reichstags, sie versteckten dort eine Zigarettenschachtel, die sie später wieder abholen wollten. Alle waren so schön ahnungslos, was die Zukunft bringen würde. »Wer weiß, welcher Bauarbeiter die damals gefunden hat und uns dankbar war.«
Nach 1989 stand für viele Berliner Theater plötzlich alles auf der Kippe. Das Schiller-Theater wurde abgewickelt. Das Gorki nahm der damalige Kultursenator Ulrich Roloff-Momin als nächsten möglichen Kandidaten ins Visier. Für die Lage, in der sich die Hauptstadttheater befanden, sagt Kühne, war neben der brutalen Sparpolitik des Berliner Senats aber noch ein anderer Aspekt bedeutend. »Die Leute wollten jetzt ihr Geld für was anderes ausgeben als für Theater«, sagt sie. Heute ist das Gorki von diesen Zeiten so weit entfernt, wie es nur geht. Die Auslastung liegt meist bei über 90 Prozent. Aber das Wichtigste zum Schluss: In den Whiskyflaschen ist wirklich nur Apfelsaft.
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