Hier sehe ich und kann nicht anders

Ein Brief Katharina von Boras an ihren Mann Martin Luther

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 8 Min.

Mein lieber Martinus, wenn Du nur sehen und erleben könntest, was sich derzeit in Mitteldeutschland abspielt! Wo immer man hinkommt, es luthert so gewaltig im 500. Jahr der Reformation, dass ich in Anlehnung an Deinen berühmt gewordenen Spruch nur sagen kann: Hier sehe ich und kann nicht anders. Nämlich Dir ein bisschen davon zu erzählen. Über manches würdest Du Dich sicher köstlich amüsieren: beispielsweise über die Begeisterung der Archäologen, als sie bei Sanierungsarbeiten in unserem Wittenberger Zuhause unser Klo entdeckten. Täglich stehen Touristen vor dem Ziegelbau, stecken den Kopf durchs Fenster und staunen darüber, dass es sowas im 16. Jahrhundert schon gab.

Allerdings, wenn ich daran denke, wie es im einstigen Augustinerkloster aussah, als ich und die acht anderen aus dem Kloster Nimbschen geflohenen Ordensschwestern 1523 dort ankamen, war der spätere Bau des stillen Örtchens wirklich so etwas wie eine Revolution in Sachen Hygiene. Bis wir Nonnen kamen, herrschte hier reine Männerwirtschaft. Was waren wir Frauen dankbar, dass Du uns Obdach gewährt hast. Denn hätte man uns Abtrünnige gefasst - wer weiß, ob wir es überlebt hätten. Wittenberg brachte uns endlich ein freies Leben.

Ein Jahr nach unserer spektakulären Flucht waren alle außer mir unter der Haube. Dass ich nach ein paar Enttäuschungen ein Auge auf Dich geworfen hatte, hast du ziemlich lange ignoriert. Du wolltest nicht heiraten, meintest, das geziemt sich nicht für einen ehemaligen Mönch. Um so glücklicher war ich, als Du mich dann endlich am 13. Juni 1525 doch zur Frau nahmst und wir in dem Haus, wo meine Flucht einst endete, bis zu Deinem Tod mit unseren sechs Kindern leben konnten. Wir hatten ein gutes Leben zusammen, auch wenn Du nicht gerade mit fliegenden Fahnen in die Ehe gingst, wie Du nur acht Tage nach unserer Hochzeit an Deinen Freund Nikolaus von Amsdorf schriebst: »Denn ich empfinde nicht hitzige Liebe oder Leidenschaft für meine Frau, aber ich habe sie sehr gern.« Ein leidenschaftlicher Liebhaber warst Du nie, umso mehr sah ich Dein Bekenntnis: »Ich wollte meine Käthe nicht um ganz Frankreich und Venedig dazu hergeben«, als schönste Liebeserklärung.

Wirklich leidenschaftliche Liebe brachtest Du hingegen für das Evangelium und jeden auf, der Dir half, es zu verteidigen. Viele von denen lebten zeitweilig unter unserem Dach. Sie alle satt zu machen, lag in meinen Händen. Ich will mich ja nicht selber loben, aber wirtschaften, organisieren und planen konnte ich besser als die meisten Männer, besser als Du sowieso, der mit Geld überhaupt nicht umgehen konnte. Mag sein, dass es für den einen oder anderen befremdlich klang, wenn Du mich mit »Herr Käthe« ansprachst, aber in allen praktischen Dingen hatte tatsächlich ich die Hosen an.

Ich will Dir ja nicht den Rang ablaufen - das geht gar nicht, denn Dein Konterfei schmückt alles Mögliche und Unmögliche - aber die Menschen haben inzwischen bemerkt, wie wichtig ich für Dich und Deine Arbeit war. Vor wenigen Wochen erst konnte man einen Fernsehfilm über mein Leben sehen, und vor unserem Haus in Wittenberg steht keine Plastik von Dir, sondern von mir. Das Lutherhaus übrigens wurde in den letzten Jahren aufs Feinste aufpoliert, so dass die Besucher aus dem 21. Jahrhundert jede Menge über zunächst Dein und später unser gemeinsames Leben hier erfahren können. Wie geleckt sieht alles aus. Vieles würdest Du kaum wiedererkennen. Manches, wie zum Beispiel unsere gute Stube, ist zum Glück so erhalten, wie zu unserer Zeit.

Beim Bummel durch Wittenberg bin ich aus dem Staunen kaum herausgekommen. Natürlich habe ich den Cranachhof, wo ich für kurze Zeit lebte, besucht. Da, wo wir Lucas Cranach dem Älteren einst Modell saßen, arbeitet noch heute ein Künstler. Und stell Dir vor, er zeigt Kindern die Kunst des Malens. Es ist eine Freude zuzusehen.

Natürlich habe ich Dich in der Schlosskirche besucht, wo Du Deine letzte Ruhe fandest. Die Touristen aus der ganzen Welt kommen aber vor allem hierher, um die Tür, an der Du angeblich Deine 95 Thesen gegen den Ablasshandel angebracht hast, zu sehen und um ein Selfie davor aufzunehmen. So nennt man heute ein Porträt, das mit einem kleinen Kasten gemacht wird, den fast jeder mit sich herumträgt und ständig draufguckt.

Gleich gegenüber der Kirche gibt es eine Touristeninformation, da habe ich Dinge gesehen, die glaubst Du mir nie. Rund 300 verschiedene zum Teil grässlich kitschige Souvenirs mit Deinem Konterfei und mit Deinen Sprüchen versehen kann man dort kaufen: Nudeln, Bier, Socken, sogar einen Babyanzug mit der sinnigen Aufschrift: » Warum rülpset und pforzet ihr nicht, ...« Naja, Du kennst den Spruch ja.

Und dann gibt es Dich auch noch als Räuchermännchen. Darin sehe ich zumindest eine Symbolik, denn Dampf ablassen konntest Du ja prächtig, wenn jemand nicht Deiner Meinung war. Ein gutes Bild davon kann man sich in Leipzig machen, wo es im Stadtmuseum eine Ausstellung zur berühmt gewordenen Leipziger Disputation gab. Eigentlich hatte das Streitgespräch zwischen den Reformatoren mit Dir an der Spitze und den Verfechtern der päpstlichen Lehre ja schon ein Jahr früher begonnen. Da aber diese schriftliche Auseinandersetzung zu keinem Ergebnis führte, wurde vom 27. Juni bis 16. Juli 1519 ein Klärungsgespräch in Leipzig vereinbart. Tagelang debattiertest Du im Beisein vieler anderer Reformationsanhänger und -gegner mit dem katholischen Theologieprofessor und Papstvertrauten Johannes Eck über die Stellung des Papstamtes, die kirchliche Lehrautorität und über den von Dir so gegeißelten Ablasshandel. Nicht nur in euren theologischen Ansichten wart ihr ein extrem ungleiches Paar, auch in der Statur - Eck, füllig wie ein Fels in der Brandung, mit einer stählernen Stimme, Du damals dünn wie eine Bohnenstange und noch nicht so geübt in der Argumentation. Am Ende ging der Streit unentschieden aus. Doch mit Deiner Aussage, dass nicht alle Thesen von Jan Hus, die das Konstanzer Konzil verdammt hatte, der Kirchenlehre widersprechen, brachtest Du beim Papst das Fass zum Überlaufen. Mit dem Ergebnis, dass er 1520 eine Bannbulle gegen Dich erwirkte.

Da Du seiner Aufforderung, Deine Lehre innerhalb von 60 Tagen zu widerrufen, nicht nachkamst, erklärte er Dich für vogelfrei. Spätestens von da ab musstest Du massiv um Dein Leben fürchten, und ebenso jeder, der Dir Unterschlupf gewährte. Dennoch gab es viele, die Dir halfen. Wie Heinrich Stromer von Auerbach, der Wirt von »Auerbachs Keller«. Als Du bei Nacht und Nebel von der Wartburg, wo Du Dich vor Deinen Feinden versteckt hattest, verkleidet als Junker Jörg zurück nach Wittenberg rittest, nahm er Dich in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1521 mutig in seinem Haus auf. Heute erinnert eine Stube in dem Lokal in der Leipziger Mädlerpassage daran. Dort hängt auch ein Gemälde, auf dem Ihr beide zu sehen seid - mein Gott, warst da schmal. Nun ja, das hat sich ja dann dank meiner guten Küche sehr bald geändert.

Torgau müsstest Du heute sehen, was ist das für eine schöne Stadt geworden! Dort allerdings bin ich der Star. Einem Mann aus Torgau, Leonhard Koppe, verdanke ich ja schließlich auch meine Flucht. Er hatte dem nahen Kloster Nimbschen Ostern Fisch geliefert, nahm uns Nonnen auf der Rückfahrt nach Torgau unter eigener Lebensgefahr mit und gab uns für eine Nacht ein Obdach.

In Torgau traf ich mich selbst, also genau genommen Silvia Meinel, die bei der Touristeninfo der Stadt arbeitet und als Stadtführerin mein zweites Ich ist. Sie macht das so gut, dass man fast vergisst, dass zwischen uns 500 Jahre liegen. Mit ihr besuchen die Gäste auch die Schlosskapelle im Schloss Hartenfels, den ersten protestantischen Kirchenbau der Welt, den Du 1544 geweiht hast. Ach, könntest Du nur die wunderschön sanierte Kanzel sehen, von der Du einst gepredigt hast!

Hier in Torgau gibt es in dem Haus, in das ich mit unseren jüngsten Kindern einzog, als ich 1552 vor der Pest von Wittenberg nach Torgau floh, die einzige Gedenkstätte, die mir gewidmet ist. Du hast es ja nicht mehr kennengelernt, denn als ich Wittenberg schweren Herzens verließ, warst Du leider schon sechs Jahre tot. Auch ich lebte nur drei Wochen hier, bevor ich an den Folgen eines schweren Unfalls während der Reise verstarb. Meine letzte Ruhe fand ich in der Stadtkirche St. Marien von Torgau. Immer liegen dort Blumen, genau wie an Deinem Grab. Die Menschen haben uns nicht vergessen, das ist doch gut zu wissen. Wenngleich ich mich manchmal frage, ob der ganze Rummel, der 2017 um Dich und auch mich veranstaltet wird, wirklich sein muss. Mach’s gut, mein lieber Martinus, im nächsten Jahr wird’s gewiss wieder etwas ruhiger um Dich.

Infos

Katharina-Führungen durch Torgau: Tel.: (03421) 7014-0 www.tic-torgau.de

Luther in Leipzig: www.luther-in-leipzig.de

Ausstellung »Luther im Disput«:

Die Dauerausstellung im Leipziger Alten Rathaus ist Di-So und an Feiertagen 10-18 Uhr geöffnet Tel.: (0341) 965130

www.stadtmuseum-leipzig.de

Luther in Sachsen-Anhalt:

www.luther-erleben.de;

www.martinluther.de

Lutherstadt Wittenberg:

www.lutherstadt-wittenberg.de

Sächsischer Lutherweg: Der etwa 550 Kilometer lange Rundweg führt über 27 Stationen zu Stätten der Reformation.

www.lutherweg-sachsen.de

Zum Sächsischen Lutherweg ist ein begleitendes Reisebuch erschienen: »Der Lutherweg in Sachen«, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 10 Euro.

Literatur: »Gespaltene Welt - Schauplätze der Reformation«, Mitteldeutscher Verlag, Halle, 24,95 Euro


Allgemeine touristische Infos zu Sachsen-Anhalt und Sachsen: www.sachsen-anhalt-tourismus.de

www.sachsen-tourismus.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal