Große Momente sind einfach

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ich bin eingeladen von der Theater-Biennale zur Verleihung des Goldenen Löwen an die Bühnenbildnerin Katrin Brack, die vielen Inszenierungen des verstorbenen Dimiter Gotscheff ihr unverwechselbares Gesicht gegeben hat. Ort des Festakts: der Palazzo Giustinian in der Nähe vom Markusplatz.

Bis dahin läuft man eine Weile, ich muss mich beeilen, greife schnell noch Handy, Portemonnaie und Schlüssel, ziehe die Tür hinter mir zu, will abschließen, aber nichts dreht sich. Wie ein Blitz schießt es mir ein: Ein Schlüssel steckt von innen, ich halte den Zweitschlüssel in der Hand. Jetzt ist es also doch passiert. Dabei hatte man es mir bei der Wohnungsübergabe eingeschärft: bloß nicht den Schlüssel von innen ins Schloss stecken. Wenn dann die Tür zugeht, kriegt sie keiner jemals mehr auf, dann muss man sie aufschweißen! Ich hatte genickt, ja klar, ich passe schon auf. Wer diesen Satz nicht schon alles, bei allen möglichen (und unmöglichen) Gelegenheiten, gesagt hat!

Die Italiener sind Sicherheitsfetischisten, verbarrikadieren sich regelrecht. Ich hatte hier schon mal eine Wohnung mit drei Schlössern mitsamt drei farbig markierten Schlüsseln: gelb, rot, blau. Und nur wenn sie in der richtigen, also der genannten, Reihenfolge in die richtigen Schlösser gesteckt wurden, ging sie auf. Eilig durfte man es da nicht haben. Aber dies hier ist eine echte Tresortür, wie man sie nördlich der Alpen wohl in keiner Privatwohnung zu Gesicht bekommt: mehrere Metallschichten, massiver Rahmen mit noch massiveren Schließriegeln nach allen vier Seiten. Mit dieser Tür gewinnt man jeden Sicherheitswettbewerb, und der Vermieter, ein Mathematikprofessor aus Padua, hatte wohl mit allem gerechnet, nur nicht mit mir.

Aber manchmal hat man mehr Pech, als man statistisch gesehen haben dürfte. Kürzlich saß ich am Computer, und nebenan in der Küche begann plötzlich der Wasserhahn auf penetrante Weise zu tropfen. Schließlich stand ich auf, ihn zuzudrehen, aber nicht aus dem Wasserhahn tropfte es, sondern von der Decke. Die alarmierte Wohnungsagentur rief den Eigentümer an, dieser die anderen Eigentümer der Wohnungen über mir und abends um 21 Uhr versammelten sich alle bei mir zwecks Spurensuche - die dauerte und dauerte, da in den Wänden auch Rohre verlaufen, von denen man nicht genau weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ein lange Debatte entspann sich, während ich Erfrischungen reichte. Wasser, da war man sich einig, ist tückisch, besonders hier in Venedig, wo man auf dem Wasser schwimmt und nicht weiß, wie lange noch. Die Ursache des Lecks wurde nicht entdeckt, es hörte irgendwann von selbst wieder auf zu tropfen.

Das hätte ich jetzt, draußen vor der Tür stehend, auch gern, dass es von selbst aufhört. Die Agentur, deren Nummer ich zum Glück im Handy gespeichert habe, weiß auch keinen Rat: bei dieser Tür? Ob denn ein Fenster offen stehe? Selbstverständlich nicht!

Ich weiß also nicht, wo ich heute bleibe, das ist ein bisschen wie in »Lost in Translation«. Absurd schönes Zugleich: geladen zu einem Festakt und potenziell obdachlos. Ich bin nur halb in der Welt, im Kopf laufen alle möglichen Szenarien. Was diese Tür mich kostet, wenn sie wirklich zerschnitten werden muss, mag ich mir nicht vorstellen. Aber ich muss es mir wohl vorstellen. Und wer soll das machen, und was passiert danach? Der Beginn der Zeremonie verzögert sich, das ist nicht unüblich hier, es dauert eben seine Zeit, bis alle Würdenträger (von den obligatorischen Carabinieri-Offizieren, die hier bei allen wichtigen Anlässen in Gala-Uniform dabei sind, bis zu den Lokalpolitikern) eintreffen. Aber ich starre bloß auf mein Handy.

Dann der Anruf: Die Feuerwehr war da und hat den Schlüssel aus dem Schloss geholt. Wie wundersam, kein gieriger privater Schlüsseldienst, sondern die »Virgili del Fuoco«! Rechnung folgt, aber Tür und Schloss sind heil geblieben. Diese durch die Kanäle patrouillierenden Einheiten für alle Eventualitäten hatte ich vor Jahren schon einmal erlebt, als in einem Kanal auf der Giudecca ein Boot kenterte. Die Besatzung stand nass am Kai, das Boot schwamm kieloben. Es wurde von den Feuerwehrleuten erst kunstvoll vertäut und schließlich gedreht. Dann kam noch ein weiteres Boot mit einem Taucher, der den Kanal nach über Bord gegangenen Habseligkeiten absuchte, die stückweise an Land befördert wurden. Auch im Teatro la Fenice, das in seiner Geschichte dreimal abbrannte, patrouilliert rund um die Uhr ein halbes Dutzend Feuerwehrleute, sogar während der Vorstellungen streifen sie wachsam durch den Zuschauerraum, und das überaus geräuschvoll in voller Montur, bereit, jederzeit einzugreifen. Aber an diesem Tag bin ich der letzte, der daran etwas zu kritisieren hätte.

Jetzt also mit voller Aufmerksamkeit der Goldene Löwe der Theaterbiennale für die Bühnenbildnerin Katrin Brack. Gefragt, wie sie eigentlich arbeite, antwortet sie, indem sie nach und nach die schlechten Ideen aussortiere. Sie wolle nichts illustrieren, auch nichts interpretieren. Am Ende sei ein gutes, also aufschließendes Bild immer einfach - und vor allem leicht.

Bracks Bühnenbilder werden so zu zentralen Metaphern einer Aufführung. In der legendären Gotscheff-Inszenierung von »Iwanow« an der Volksbühne bestand das Bühnenbild aus einem mal mehr, mal weniger dichten Nebel. Man ist zugleich da und nicht da, der Nebel verschluckt die Handelnden und spuckt sie wieder aus - grandios! Oder bei Jarrys »König Ubu«, ebenfalls von Gotscheff, ebenfalls an der Volksbühne: lauter Ballons, große und kleine, durch die sich das handelnde Personal dieser Persiflage auf die Macht und deren Perversionen seinen Weg bahnte. Allesamt Hohlkörper, die aufeinanderprallen. Ein absurdes Spiel. Das ist dann tatsächlich das Einfache, das schwer zu machen ist.

Den Silbernen Bären erhielt die polnische Regisseurin Maja Kleczewska. Sie schildert Anfeindungen, unter denen die Künstler in Polen mehr und mehr zu leiden haben. Anschließend wird im Teatro Piccolo Arsenale ihre Inszenierung »The Rage« vom »teatr powszechny« aus Warschau nach einem Text von Elfriede Jelinek gezeigt. Ein starker Abend über die Obszönitäten unserer Gegenwart - in den Medien ebenso wie in Kirche und Politik. Mit dem Flüchtlingselend will das nationalkonservative Polen nichts zu tun haben. Im Foyer hängen die Listen mit den Namen Tausender, die auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertranken. Ein starker, auch ein pathetischer Abend - gegen den in Polen Hetzkampagnen laufen, nicht nur von nationalistischen Splittergruppen, sondern auch von offiziellen staatlichen Stellen. Eine Schauspielerin verliest nach der Vorstellung einen Aufruf des Ensembles, die in Polen akut bedrohte Freiheit der Kunst, der Gedankenfreiheit überhaupt, zu verteidigen.

Es ist schon Nacht, als ich durch die langen dunklen Gassen zwischen den uralten Fabrikhallen des Arsenale Richtung Ausgang laufe. Das hier ist immer noch militärisches Sperrgebiet und wird nur alle zwei Jahre zur Biennale fürs Publikum geöffnet. Hier begann bereits im Mittelalter das Industriezeitalter: In Taktstraßen wurden hier jene Galeeren gefertigt, mit denen die Republik Venedig zur Weltmacht avancierte. Aber welchen Leidenspreis hatte dies doch, siehe Bleikammern für echte und vorgebliche Feinde aller Art. Das ist dann die dunkle Seite von Schönheit und Reichtum Venedigs. Was sagt uns das über das Europa von heute?

Etwas Herzklopfen habe ich schon, als ich den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnung auf Zeit stecke. Er lässt sich drehen, die Tür geht auf. Die großen Momente sind tatsächlich immer ganz einfach. Aber ob sie schwer oder leicht sind, vermag ich im Moment nicht zu beurteilen.

Gunnar Deckers »Notizen aus Venedig« der Vorjahre sind im Buch »Venedig für Skeptiker« erschienen (Quartus-Verlag, 168 S., 16,90 €) und erhältlich im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777.

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