Der beschämte Mensch

Karin Henkel inszenierte »Rose Bernd« von Gerhart Hauptmann bei den Salzburger Festspielen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist, als hole sie aus dunkelster Truhe - einen Horizont. Es ist, als erzähle dieser Körper - von letztem Belang. Es ist also sofort von ihr zu reden. Lina Beckmann in der Titelrolle. Eine Große deutschen Schauspiels. Zerbrechlich, aber in ständiger Wehr gegen diesen Eindruck, also: robust, mit aller Energie eckig. Als Rose Bernd: eine urschwache Aufbäumriesin in den gesellschaftlichen Knautsch᠆zonen. Natürlich vergeblich, aber doch mit dem rasenden Trotz, der gnadenlosen Natur - nur weil die eine Schöpferin ist (mehr als die Gesellschaft?) - nicht alles zu vergeben.

Bei dieser Rose Bernd sind die Märchenerzähler in die Schule gegangen, um zu lernen, was das sei: ein leidendes, lumpiges, liebesbedürftiges, abgewiesenes, zutrauensnacktes Wesen. Aschenputtel, hässliches Entlein, Sterntalermädchen. Wo so eine die Welt betritt, schüttelt Frau Hölle die Lotterbetten aus, und es regnet Unglück. Diese junge Frau steht im Regen und stiert tapfer durch den Hagel Elend - der sie erschlägt.

Die Spielfläche ist ein Kampfplatz, den die Menschen wie tief Erschöpfte oder infam Lauernde oder verunsichert Fremde betreten. Erschöpft von Gewalt, lauernd auf Gewalt. Und sofort verunsichert, wenn statt dessen - Liebe droht. Gerhart Hauptmanns »Rose Bernd« bei den Salzburger Festspielen, draußen vor der Stadt, auf der Perner Insel in Hallein. Eine Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: Karin Henkel. Erzählt wird die Geschichte des Dorfmädchens, das eheversprochen ist, aber ein Verhältnis mit dem Dorfschulzen Flamm hat. Mit Kindsfolge. Deswegen wird sie vom Maschinisten Streckmann erpresst, vergewaltigt. Rose Bernd leugnet ihre Schwangerschaft, leistet sogar einen Meineid, bringt ihren Säugling um.

Gesprochen, gehustet, geröchelt, geweint wird im schlesischen Dialekt. Die Menschen existieren in einer Sprache, die Vergangenheit ist, aber: Dieser Dialekt bricht heraus, als schreie da eine Allzeit. Diese schwitzende Geilheit. Diese Meineid-Manie. Diese Not, jede lustfreie Strenge für Christlichkeit zu halten. Dieses Zersetztsein von Vorteilsnahme. Diese unbarmherzig laute Lust auf Rufmord, auf den Ruf nach Mord.

Geschlechterkampfwilde und Zerrissenheitszombies präsentieren ein Abtötungsverfahren. Die Männerwelt: chorische Jünglinge und eine bäuerliche Arbeitslagerfrömmigkeit, die zum gesungenen Frohgemüt Mundschutz trägt oder mauloffen Kirchgang betreibt wie eine anrüchige Flüsterbude. Eine Ansammlung von Rammfleisch, das sich in Rose Bernd hineinwühlt. In ihren Unterleib, in ihren Kopf. Dazwischen das Herz? Das interessiert keinen, da gehen sie alle drüber, als wär’s gar nicht da.

Gottes Glanz loben, aber nur Kreuzigungselend betreiben - so sind sie. Alle sind so. Alle in diesem wuchtigen Bauch von Volker Hintermeiers Bühne, die Stahlgehäuse ist oder langgezogener Raum, Kirche oder Industriehalle, in der monotone, menschenverwertende Neuzeit produziert wird. Ein wahrhaft unheimlicher Raum, der Asche zu kauen scheint; Tauben flattern in einem Käfig, Grablichter blinken, ein Holzkreuz steckt schief im Boden, der als Steg weit in die Zuschauerreihen führt.

Jeder ist hier Spieler und Krieger. Um das Dasein zu erzählen, genügt zu sagen: Es tut weh. Das ist Irrsinn, das ist paradox, das ist nicht zu fassen. Verzweifeltes Bösesein als ein Lebenselixier - das jedes Leben tötet, wenn es denn mehr als Notwehr sein will. Karin Henkel inszenierte schmerzhart. Hochgedreht psychentief. Radikal unwirklich - also aufwühlend zeithautnah. Aber diese Regisseurin liebt auch den Gruselgeist, sie schminkt Gesichter, umschwärzt Augen und Mundränder, taucht sie in bunten Trachten-Terror oder ins Gespensterweiß, sie malt geradezu Geräusche, sie kann lüstern kalt und lichtgrell mit dem Besteck der Theaterei klimpern. Kräftig, deftig. Als stiege der gespenstische Stummfilm aus dem Grab und zwinkere - bloß kein Naturalismus!

Scham ist die Ozonschicht des Individuums, schreibt der Soziologe Jens Roselt, sie liegt wie eine Hülle um die Würde. Der beschämte Mensch aber, der steht entblößt da - in seiner Unterlegenheit. Nur Aggression oder Selbstaggression bleiben als Schutz. Der nur weiter alles auf- und niederreißt. Wenn diese drei Stunden Theaterwucht vorbei sind, werden wir gesehen haben, wie einem Menschen beschämend die Herzhaut abgezogen wurde. Lina Beckmann ist eine Künstlerin, die ihr Spiel wie einen Herzhautschutz um dieses arme, ausblutende Mädchen legt. Ein großes Epos von Zartheit und Zertrümmerung; inmitten der Zartheit eine dumpfe plebejische Duldungskraft, inmitten der Zertrümmerung ein ebenfalls plebejische Widerstandswüten. Eine Kindlichkeit, die alles weiß von der Welt. Das ist schlichtweg abgründig.

Der verheiratete Liebhaber von Rose wird bei Markus John zum Kraftlappen, der nach Aufdeckung der Affäre reibungsfrei ins Eis eines Rationalisten taucht - der Liebe sagt, aber Fehltritt denkt. Roses Vater ist bei Michael Prelle ein Charakterstummel im Streckverband der Sittentreue, den Bräutigam August spielt Maik Solbach ganz aus einem psychotischen Bibbern heraus, mit dem ein glückloser Spastiker um die Gnade der Welt bittet, nicht auffallen zu müssen. Und der rabiate Erpresser Streckmann des Gregor Bloéb ist wie alle Übrigen just da, wo er fies ist, auch ein Opfertier mit überfordertem Menschenhirn. Julia Wieninger gibt auf so berührende wie schreckende Weise Flamms gelähmte Ehefrau: ein Mensch, dessen Leiderfahrung eine Solidaritätsfähigkeit schuf, die aber letzten Endes, durch die Gitter ihres Bettes, auch nur für einen einzigen Mut zureden kann: alle unüberwindliche Einsamkeit tapfer und frostbereit zu tragen.

Wenn diese Rose stier stille steht, so wund verwundert über das scheußliche Leben, dann steht und schaut sie, als wolle sie den Mauern erleichtern, sie zu umwachsen. Als zwinge sie sich zur Ruhe in diesem unablässigen Getriebensein. Das kann in solch vibrierender, dann wieder starren Angst nur ein Mensch, der schier soldatisch, und darin aber ganz unschuldig, nach Berührung fiebert - und nie den Stolz aufgeben wird, Berührung und Lust wenigstens versucht zu haben. Im flüchtigen Aufschein zeigt uns dieses Gesicht, wie gern und heiter sich Rose herumtreiben würde, vielleicht wie eine verführerische Vagabundin, befreit von aller Soziallast. Aber Büchner kommt einem in den Sinn: »Ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind.«

Rose hat ihr Kind erwürgt. Sie hat gemordet - das ist der Hohn ihrer Angst gegen die Welt. Das Gesicht ist wahrhaft Rotz und Wasser. Und stumpfes Eisen. Wieder und wieder erschlägt dich diese Wahrheit, die alles Weh begründet hat: »Ich hab mi gschamt!« Geschämt wegen der Sehnsucht nach Lieben und Geliebtsein. Dann der Niedersturz. Aber vorher noch ein anderer Satz: »Ich bin stark gewest!« Aus. Stille. Noch tiefere Stille. Losbrechender Beifall. Er erlöst den Körper Lina Beckmanns nur sehr langsam aus dessen faszinierender, aufstörender Verausgabung.

Nächste Vorstellungen: 5., 6. August

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