Explosion des Rhythmischen

»Der Tanz und das Kino« - eine Sonderausstellung im Filmmuseum Potsdam

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 4 Min.

Spiegelflächen und eine Fülle szenischer Artefakte umfangen den Besucher in den fünf zu erkundenden Kabinetten. Auf Leinwänden drehen und springen Filmidole von den frühen Anfängen bis zur Tanzmoderne. Kopfhörer hängen von der Decke, und der Besucher bekommt sofort Lust, mit Tatjana auf dem Ball in »Onegin« (1999) zu tanzen oder im kontrapunktischen Zeitsprung Teil des Dancefloors in »Der Nachtmahr« (2015) zu sein. Licht umspielt die tänzerische Bewegungsektase in der Begegnung unterschiedlicher Geschlechter und Altersgruppen.

Der Drive des beginnenden 20. Jahrhunderts, hörbar gemacht in den elektrisierenden Kompositionen von Igor Strawinsky und sichtbar werdend in den bewegten Bildern des Kinozeitalters, ist von Anfang an mit dem Tanz verbunden. Die sich rasant verändernde Lebenswelt seit der Jahrhundertwende taumelt in den Strudel der ästhetischen Beschleunigung. Die Dynamisierung des Lebens im Maschinenzeitalter der urbanen Metropolen führt zur Explosion des Rhythmischen in Revue- und Gesellschaftstänzen, zu gesellschaftlichen Reformbewegungen, sich ständig wandelndem Konsumverhalten und immer wieder neuen Modetrends.

Das junge Medium Film ist in der Lage, die Bewegung in unterschiedlichen Montagetechniken ins rechte Licht zu rücken und aufzuzeichnen. Die US-Amerikanerin Loïe Fuller arbeitete als Erste mit farbigen Lichtprojektionen und elektrischem Licht auf der Bühne und ließ sich ihr Serpentinentanz-Kostüm bereits 1894 patentieren. Tanz als Raum-Zeit-Kunst voller Dynamik, Emotionalität, Sinnlichkeit und Verführung findet seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert jenseits der Theaterbühne auf der großen Leinwand ein breites Spektrum an neuen Ausdrucksmöglichkeiten und gewinnt weltweit ein (zahlendes) Millionenpublikum.

Die Ausstellung zieht den Betrachter der spannungsvoll-spielerisch arrangierten Leihgaben renommierter Filmmuseen und Tanzarchive, zweisprachig (deutsch/englisch) klug kommentiert, in ihren Bann. Originalkostüme, Requisiten, Plakate, Fotos, Drehbücher und natürlich die Fülle von Tanzfilm-Szenen faszinieren. Man erlebt hier hundert Jahre Tanz-, Film- und Zeitgeschichte im internationalen Kino, wobei Osteuropa unterbelichtet erscheint und Verweise auf Choreografen an den Filmsets fehlen. Video-Installationen erhellen anschaulich, wie die Revuen und Chorus-Lines der Tanztruppen der dreißiger Jahre militärische Bewegungsformationen normierter Körper auf die internationale Filmbühne übertragen. Faszinierend in der filmischen Gegenüberstellung auch Charles Bryants »Salome« (1923) mit Carlos Sauras sechsminütigem, inhaltlich völlig anders konzipiertem Flamenco-Solo einer »Salome« (2002).

Der Blick durch den »Bauchnabel« einer erotischen Tänzerin gewährt Einblicke in die raren Zensurschnitte der Nackttänze; nur 31 Sekunden dauert der »Schleiertanz« (1907) der Adorée Villany. Die tanzende Gesellschaft erscheint als Gegenwelt und Fluchtpunkt zum Bestehenden. Charismatisch tanzen Anita Berber, Valeska Gert und die langbeinige Stepp-Virtuosin Josephine Baker als Solistinnen zwischen Varieté und Film gegen Pseudomoral an.

Musik, Tanz und Natur verschmelzen in der Ufa-Produktion »Der heilige Berg« (1926) im Tanzsolo der Leni Riefenstahl vor den Klippen Helgolands. Regisseur Arnold Fanck doubelt das Wogen der Wellen mit ihren Ganzkörperschwüngen der Hingabe teils in Zeitlupe, Nahaufnahme und Ortswechsel.

Aus der Perspektive der Seitenbühne erlebt der Ausstellungsbesucher die dänische Stummfilmdiva Asta Nielsen in »Afgrunden« (»Abgründe«, 1910) in einem erotischen Lassotanz mit Partner. Als »Mata Hari« (1931) spielte auch Greta Garbo virtuos auf der Klaviatur von Tanz und Verführung. Der Schauwert der Hollywood-Tanzfilme und der deutschen Revuefilme der dreißiger Jahre ist enorm. Tonfilmoperetten wie »Die drei von der Tankstelle« (1930) bringen mitten in der Weltwirtschaftskrise die gesamte filmische Welt zum Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit. Nicht nur Lilian Harvey, sondern auch die Stühle der Diplomaten, tanzen bei Erik Charell im Walzertakt in »Der Kongress tanzt« (1931). Das Genre des Film-Musicals der Nachkriegsjahrzehnte mit Fred Astaire, Ginger Rogers und Gene Kelly feiert Tanz als schönere Form des Gehens und Gesang als schönere Form des Sprechens; »West Side Story«, »Fame« oder »Dirty Dancing« wurden Welterfolge.

Der Bogen spannt sich mehrfach zu den Produktionen der Babelsberger Filmunternehmen, die über Jahrzehnte ein Millionenpublikum bewegten. Im populären DEFA-Erfolg »Heißer Sommer« (1967/68) tanzten und sangen Chris Doerk, Frank Schöbel und ihre Jugendcliquen zur Musik von Gerd und Thomas Natschinski von Leipzig nach Rügen.

Im letzten Raum erklingt, ganz leise lockend, eine Spieluhr mit Tschaikowskis Schwanensee-Motiv. »Billy Elliots« Garderobe (2000) ist illuminiert, doch der Horror lauert unter zerbrochenen Spiegeln. Sich drehende weiß-schwarze Tutus begleiten Natalie Portman sodann als furiosen »Black Swan« (2011).

»Was macht der Film mit dem Tanz und was macht der Tanz mit dem Film?« Dieser zentralen Frage widmen sich Ausstellung, Begleitprogramm und Buch-Neuerscheinung mit inhaltlicher und gestalterischer Hingabe. Auf dem hochkarätigen Programm der internationalen Tanzfilmreihe stehen Lars van Triers »Dancer in the Dark«, Mel Brooks »Frühling für Hitler« und Sergej Bondartschuks Monumentalverfilmung von »Krieg und Frieden«. Tanzaffine Cineasten und Neugierige werden im Potsdamer Filmmuseum lustvoll bewegt.

»Der Tanz und das Kino«, bis zum 22. April 2018 im Filmmuseum Potsdam, Breite Straße 1A Ursula von Keitz und Philipp Staisny (Hg.): Alles dreht sich und bewegt sich. Der Tanz und das Kino. Schüren, 252 S., zahlreiche Abbildungen, geb., 24,90 €.

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