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Asymmetrische Gegenseitigkeit

Friedhelm Hengsbach plädiert für mehr Solidarität in Europa

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Bonmot »Wenn die Deutschen das Wort ›Sozialunion‹ hören, bekommen sie Schüttelfrost« wird Jean-Claude Juncker zugeschrieben. Mit »den« Deutschen ist vor allem das regierende Personal von der Kanzlerin bis zum Finanzminister gemeint, die das Wort »Sozialunion« scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Wie borniert diese Haltung ist, zeigt das Buch des katholischen Sozialphilosophen Friedhelm Hengsbach.

Entgegen der neudeutschen Ideologie von staatlicher Sparpolitik und Schuldenbremse - dem Mythos von der »schwarzen Null« - zeigt der Professor, dass die rechtlichen Grundlagen der EU eine Sozialunion nicht nur nicht verbieten, sondern explizit gebieten. Zwar drückten deutsche Politiker eine Entsolidarisierungsklausel in den Maastricht-Vertrag, aber der EU-Vertrag von 1992 enthält in Artikel 3 ebenso eine Solidaritätspflicht wie der Vertrag über die Arbeitsweise der EU von 2009 im Artikel 174. Obendrein sehen der Struktur-, der Anpassungs- und der Agrarfonds sowie die Europäische Sozialcharta (1965) und das Europäische Sozialprotokoll (1992) gemeinsame, auf Ausgleich bedachte Zuständigkeiten vor. Allerdings bleiben diese papiernen Grundlagen bis heute folgenlos, denn daraus lassen sich »keine sozialen Grundrechte ableiten, die durch einzelne Bürger oder Gruppen auch eingeklagt werden könnten«.

Das liegt auch daran, dass die Verträge nicht sagen, was das Wort »Solidarität«, das in ihnen durchaus vorkommt, überhaupt bedeutet. Entgegen einem populären Vorurteil meint Solidarität nicht Mitleid oder Barmherzigkeit, sondern ist eine »gesellschaftliche Steuerungsform«, die »den rechtsverbindlichen Ausgleich gesellschaftlicher Risiken und Interessen« politisch regelt. So verstandene Solidarität beruht auf »asymmetrischer Gegenseitigkeit«, das heißt, die Beiträge bemessen sich an unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und Hilfsbedürftigkeit und beruhen gerade nicht auf marktkonformen Prinzipien wie dem Tausch von Äquivalenten in idealen Marktbeziehungen. Es ist schon hochgradige Heuchelei, dass sich Parteien und Politiker, die sich christlich nennen, solchen trivialen Einsichten verschließen. Hengsbach erteilt der Union eine Lektion mit der Erinnerung an biblische Geschichten über Gastfreundschaft und Gerechtigkeit bei Juden und frühen Christen.

Angela Merkels Überzeugung im September 2015 »Wir schaffen das!« ist aus ihrem Sprachgebrauch und aus ihrer Politik verschwunden. Heute werden diktatorisch-autoritär regierte Staaten über Nacht in »sichere Herkunftsländer« umdefiniert. Viele EU-Staaten schlossen ihre Grenzen. Hengsbach kritisiert die Volte rückwärts scharf: »Diese Kehrtwende der EU im Umgang mit Geflüchteten, die internationalen Schutz und Asyl suchen, ist beschämend, moralisch verwerflich und rechtswidrig.« Hengsbach dramatisiert die wachsende Skepsis gegenüber der EU nicht wie die konservative Presse, sondern deutet sie als Signal an die Regierenden, das bestehende soziale und ökonomische Gefälle zwischen den EU-Mitgliedstaaten auszugleichen.

Friedhelm Hengsbach: »Was ist los mit dir, Europa?« Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität! Westend Verlag. 126 S., br., 14 €.

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