Eigentum, Arbeit, Sex

Die Wissenschaftlerin Jutta Allmendinger präsentiert die Ergebnisse einer Vermächtnisstudie: Wie wollen die Deutschen in Zukunft leben? Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Manche Politiker sind buchstäblich stolz darauf, wenn man sie als Populisten bezeichnet. Meinen sie doch zu wissen, was »das Volk« wirklich denkt und wie es sich seine Zukunft vorstellt. Woher ihre vermeintlichen Kenntnisse stammen, bleibt freilich ein Geheimnis. Denn es ist ein erheblicher Aufwand vonnöten, um hierzu soziologische Daten zu erheben.

Im Jahr 2015 haben sich das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sowie die Wochenzeitung »Zeit« dieser Herausforderung gestellt. Im Rahmen der gemeinsam organisierten Vermächtnisstudie wurden in Deutschland über 3100 Menschen zwischen 14 und 80 Jahren gefragt: Was schätzen Sie heute an Ihrem Leben und was wollen Sie davon auch in Zukunft bewahrt wissen? Und wovon würden Sie sich lieber trennen? Das inhaltliche Spektrum der Befragung umfasste neun gesellschaftlich wichtige Bereiche: soziales Leben, Wohnen, Lebensstil, Berufsleben, Besitz, Liebe und Partnerschaft, Ernährung, Gesundheit, Kommunikation und Technik.

In ihrem Buch »Das Land, in dem wir leben wollen« hat Jutta Allmendinger, die Präsidentin des WZB, die wichtigsten Ergebnisse der von ihr geleiteten Vermächtnisstudie dargestellt. Viel Visionäres findet sich darunter nicht. Was nicht weiter erstaunt, denn in der Regel schreiben Menschen das, was ihnen an einer Gesellschaft gefällt, einfach in die Zukunft fort. Gleichwohl bietet das Buch einiges, was selbst die Macher der Studie als Überraschung bezeichnen.

So hat beispielsweise die Erwerbsarbeit für fast 90 Prozent der Deutschen nach wie vor höchste Priorität. Zum Vergleich: Das Leben genießen stufen 82 Prozent als sehr wichtig ein, guten Sex haben nur 52 Prozent. Die meisten Deutschen würden sogar arbeiten, wenn sie das dafür gezahlte Geld nicht nötig hätten. Sie schätzen an der Arbeit vor allem die Kommunikation mit anderen Menschen und die Möglichkeit, sich kreativ zu entfalten. Als ausschließliches Arbeitsmotiv habe die Pflicht ausgedient, meint Allmendinger. Freilich ist der Gedanke der Pflichterfüllung aus den Köpfen der Deutschen nicht ganz verschwunden. Tatsächlich wären knapp 50 Prozent der Befragten zu erheblichen Konzessionen am Arbeitsplatz bereit und würden, wenn nötig, auch eine ungeliebte oder nicht erfüllende Tätigkeit annehmen. Und sie fordern so viel »Flexibilität« auch von künftigen Generationen.

Gerechtigkeit ist den Deutschen laut der Studie zwar wichtig, allerdings spricht sich die Mehrheit für Ergebnisgerechtigkeit aus. Gemäß dem Motto: Wer mehr leistet, soll auch mehr haben. Verkannt werde hierbei, so Allmendinger, »dass Menschen aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern wesentlich geringere Chancen haben, Zugang zu guter Bildung und Ausbildung zu erhalten und entsprechend zu gut bezahlter Arbeit«. All das liegt eigentlich auf der Hand; umso erstaunlicher ist, dass die meisten Deutschen diese Zusammenhänge nicht sehen oder sehen wollen. Aber zumindest macht die Studie plausibel, warum hierzulande so viele Menschen Parteien wählen, die soziale Chancengleichheit als »kommunistisch« diffamieren und stattdessen auf Eigenleistung, Wettbewerb und Konkurrenz setzen.

Einen Lichtblick jedoch gibt es. Die Mehrheit der Befragten hält die oftmals horrenden Unterschiede zwischen den Gehältern für nicht gerechtfertigt. 41 Prozent der West- und 58 Prozent der Ostdeutschen plädieren deshalb dafür, die Einkommen nach oben zu begrenzen. Gänzlich auf Ablehnung stoßen Bonuszahlungen, zumal diese auch Managern gewährt werden, die ihre beruflichen Aufgaben schlecht oder gar nicht erfüllen.

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist für die meisten Deutschen indes kein Grund, an den Fundamenten des Kapitalismus zu rütteln. Im Gegenteil. Ein Großteil der Befragten gab an, dass die Besitz- und Erbschaftsverhältnisse durchaus so bleiben könnten, wie sie sind. Auf die Frage, ob es gut sei, wenn Eltern ihr Vermögen an ihre Kinder vererbten, antworteten 75 Prozent mit Ja. Nur zwei Prozent hielten das für problematisch. Der Besitz der Familie ist unantastbar! Das sei »eine Grundhaltung aller Menschen in Deutschland, eine Art kultureller genetischer Code«, meint Allmendinger.

Bei den Themen Liebe, Geschlecht und Partnerschaft geben sich die Deutschen weniger konservativ. Zwar erklärten 60 Prozent der Befragten, dass Heiraten ein »ganz besonderer Ausdruck von Liebe« sei. Gleichwohl gehen die Vorstellungen von Ehe und Familie mit denen früherer Generationen kaum noch konform. Allmendinger: »Die Familie verändert sich weg vom Befehlshaushalt der Männer hin zum Verhandlungshaushalt beider Partnerinnen und Partner.« Es sind vor allem Frauen, die solche Veränderungen vorantreiben. Selbst auf die Frage, ob man eine gescheiterte Partnerschaft der Kinder wegen aufrechterhalten sollte, antworteten deutlich mehr Frauen als Männer mit Nein.

Sex vor der Ehe, Zusammenleben ohne Trauschein, Patchwork-Familie, Elternschaft von Unverheirateten, gleichgeschlechtliche Beziehungen, all dies halten die meisten Deutschen heute für normal. Dennoch ist der Traum von der Liebe fürs Leben bei beiden Geschlechtern lebendig. Lediglich elf Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass es für jeden Lebensabschnitt einen anderen passenden Partner gebe. Noch unbeliebter ist die sogenannte Polyamorie, eine offene Beziehungsform, bei der beide Seiten mehrere Liebesabenteuer gleichzeitig haben dürfen. Ganze fünf Prozent fänden so etwas reizvoll.

Für die Zukunft wünschen sich die meisten Frauen in Deutschland eine Gesellschaft, die ihnen mehr Bewegungsfreiheit bietet. Anderen Frauen geben sie überdies den Ratschlag: Trefft weniger Entscheidungen aus Liebe, bringt weniger Opfer und verwirklicht eure eigenen Ziele. Zwar unterstützen auch viele Männer solche Forderungen, ob sie dies jedoch immer aus Überzeugung tun, mag hier offen bleiben.

Jutta Allmendinger: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. Pantheon Verlag, 272 S., geb., 16,99€.

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