»Es wird schlimmer, bevor es besser wird«

Der Rassismusforscher Mark Potok über rechtsradikale und antifaschistische Gruppen in den USA

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 9 Min.

Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie die Bilder aus Charlottesville gesehen haben, wo es zu rassistischer Gewalt gekommen ist und eine Frau getötet wurde?
Mein erster Gedanke war, dass dies den Beginn einer neuen Phase markiert. In den vergangenen 20 Jahren ist die Alt-Right-Bewegung gewachsen, aber das ist wirklich etwas Neues. Das sage ich deswegen, weil viele von denen, die in Charlottesville aufmarschiert sind, nicht die Leute waren, die wir vorher beobachtet haben, die sonst bei Neonazi-Demonstrationen auftauchten. Die bekannten Anführer der Szene waren vor Ort: David Duke zum Beispiel. Aber wir haben viele neue junge Weiße gesehen, die vorher nicht in der Bewegung waren. Die Bewegung breitet sich aus, wird selbstbewusster und ist eher bereit, politische Gewalt anzuwenden.

Sie recherchieren und schreiben seit 40 Jahren zur radikalen Rechten in den USA. Wie hat sich die Neonazi-Szene in den vergangenen Jahren entwickelt?
In den letzten Jahren sind neonazistische Ideen in den Mainstream eingeflossen. In den USA gibt es seit den 1950er Jahren Neonazi-Gruppen, aber sie waren immer sehr klein und marginalisiert, klar am Rand der politischen Szene. Das ist nun nicht mehr der Fall. Die Bemerkungen von Donald Trump zeigen, wie sehr solches Gedankengut Teil des Mainstream geworden ist. Trump sagte, dass es unter denen, die in Charlottesville mit Hakenkreuz-Flaggen demonstriert haben, auch »sehr anständige Leute« gibt. Auch in Europa hat sich der politische Diskurs in den letzten Jahren nach rechts verschoben, aber das geht noch einmal deutlich weiter. Was sich auch geändert hat: In der Vergangenheit konnte man einen ziemlich guten Überblick über die Bewegung erhalten, wenn man die Gruppen gezählt hat. Das tun wir am Southern Poverty Law Center seit Jahren. Aber ich denken, die Anzahl von Gruppen ist nicht länger ein guter Indikator dafür, wie groß die Bewegung ist. Es gibt immer mehr Unorganisierte, die aber Teil der Bewegung sind.

Zur Person

Mark Potok war bis März 2017 Chefredakteur der Vierteljahreszeitschrift »Intelligence Report« der Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center. Das Zentrum mit Sitz in Montgomery, Alabama, wurde 1971 gegründet und ist heute eine der größten Bürgerrechtsorganisationen der USA. Es hat zahlreiche Prozesse gegen Neonazis geführt, betreibt Bildungsarbeit und zählt sogenannte hate groups, also gewalttätige, rechtsextreme Gruppen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Dylann Roof, der Massenmörder von Charleston, hat 2015 neun Menschen in einer schwarzen Kirche erschossen. Doch er war kein Mitglied einer hate group (einer gewalttätigen, rechtsextremen Gruppe, Anm. d. Red.) er hatte wenig Verbindungen zu Neonazis in der realen Welt. Er hat einfach Sachen im Internet gelesen, die ihn überzeugt haben, zum Beispiel, dass »Schwarze unsere Frauen vergewaltigen und das Land übernehmen«. Das hat er gerufen, bevor er anfing zu schießen.

Auch wenn die Anzahl der Gruppen nicht mehr der beste Indikator ist, sie sagt trotzdem etwas aus, oder?
Nach Zählung des Southern Poverty Law Center hat die Zahl der hate groups 2012 ihren Spitzenwert erreicht und ist seitdem wieder gesunken, aber eben nicht sehr stark. Die Zahl der Gruppen ist immer noch nahe an historischen Höchstwerten von 2000 Gruppen seit Beginn der Zählung vor 30 Jahren. Ein wichtiger Trend in den letzten Jahren ist der starke Anstieg von antimuslimischen Gruppen: Ihre Zahl ist von 34 im Jahr 2015 auf 101 im vergangenen Jahr gestiegen. Begünstigt und angeheizt wurde diese Entwicklung von Donald Trump. Seit Beginn seiner Kandidatur hat er von »gefährlichen Muslimen« geredet, die man »draußen halten müsse«.

Einige Rassismusforscher sehen den starken Anstieg von gewalttätigen, rechten Gruppen auch als Teil einer weißen Gegenreaktion auf Obama.
Ja, wir haben 2009 einen starken Anstieg der Zahl von hate groups und sogenannten patriotischen Gruppen - das sind Miliz-Gruppen - gesehen. Vor allem das starke Wachstum der Milizen war wirklich bemerkenswert: Ihre Zahl ist von 149 im Jahr 2008 auf 1360 im Jahr 2012 gestiegen - dem vierten Jahr von Obamas Präsidentschaft. Obama als erster schwarzer Präsident der USA repräsentierte ein Land, das sich demografisch wandelt. Seit kolonialen Zeiten war dieses Land zu 90 Prozent weiß, aber das hat sich seit 1965 mit der zunehmenden Immigration drastisch verändert. Nach offiziellen Angaben ist das Land nun zu 62 Prozent weiß, geschätzt wird, dass Weiße im Jahr 2043 nur noch 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Bei der Demonstration in Charlottesville waren auch Mitglieder der Milizen anwesend, mit Gewehren und automatischen Waffen. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Neonazis und diesen Gruppen beschreiben?
Die Tatsache, dass solche Gruppen bis an die Zähne bewaffnet bei einer Demonstration gegen die Entfernung der Statue eines Konförderierten-Generals auftauchen, zeigt: Diese Gruppen sind mehr und mehr rassistisch geworden - und immer mehr antimuslimisch. Ursprünglich ging es den Gruppen insbesondere um eine angebliche Verschwörung der Bundesbehörden, die den Amerikanern ihre Waffen wegnehmen wollten. Aber in jüngster Zeit haben sich Neonazis und Milizen zunehmend angenähert. Sie sind keine Nazis. Zum Beispiel reden sie kaum über Juden, aber sie sind immer expliziter rassistisch. Sie waren immer gegen die Regierung, und als die Regierung plötzlich von einem schwarzen Mann verkörpert wurde, hat das der Milizen-Szene viel Auftrieb verschafft.

In Charlottesville haben die Behörden die Mobilisierung der Nazis offenbar unterschätzt.
Die Polizeiarbeit in Charlottesville war amateurhaft. Wenn die Polizei von den Erfahrungen der letzten fünf Jahre gelernt hätte, dann hätte sie wissen müssen, was sie erwartet. In vielen anderen Städten hat die Polizei in den letzten Jahren erfolgreich Rassisten und Gegendemonstranten räumlich getrennt. Das ist in Charlottesville nicht passiert, in vielen Bildern sieht man, wie die Polizei einfach daneben steht, während beide Seiten sich bekämpfen.

Gibt es regionale Unterschiede in den USA im Umgang mit Neonazi-Aufmärschen?
Ich würde nicht sagen, dass die Polizei in den Südstaaten schlechter ist als im Norden. Im Großen und Ganzen hat sich die Polizeiarbeit verbessert. Heute passiert es nur noch selten, dass rauskommt, dass ein Polizist beim Ku Klux Klan ist. Das war in den 50er, 60er und 70er Jahren deutlich verbreiteter. Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass die Polizei in den USA sich der Bedrohung durch inländische radikale Gruppen sehr bewusst ist. Es gibt einige Umfragen, die belegen, dass sie hate groups und Milizen als größere Bedrohung betrachten als radikale Islamisten.

Das Southern Poverty Law Center, eine gemeinnützige Organisation, die sich gegen Rassismus und für Bürgerrechte einsetzt, schreibt auch: Wegen ihres Jobs ist es für Polizisten besonders wahrscheinlich, dass sie es im Beruf mit Nazis zu tun haben.
Im Laufe der Jahre hat das Zentrum zwischen 5000 und 10.000 Polizisten pro Jahr weitergebildet. Wir haben Seminare über Hasskriminalität und terroristische Gruppen gegeben. Eine Abteilung der Zentrums beantwortet Anfragen von Polizeibehörden. Solche Kurse sind wichtig.

Ein wichtiger Teil der Arbeit des Zentrums ist die Recherche. Wie gehen Sie dabei vor?
Wir sammeln sehr viele Informationen, beispielsweise über das Internet. Wir beobachten zudem seit Jahren rechte Radios und das Kabelfernsehen. Dann gibt es bis heute zahlreiche gedruckte Magazine, deren Inhalte nicht im Internet erscheinen. Die sind etwas schwieriger zu bekommen, aber wir haben sie alle gesammelt. Zusätzlich haben wir Reporter, die rausgehen und investigativ recherchieren. Wir tauschen auch mit Polizisten Informationen aus. Weil das Zentrum mittlerweile so bekannt ist, melden sich auch Neonazis bei uns. Wenn etwa jemand eine Gruppe verlässt oder die Freundin des Anführers einer Gruppe erfährt, dass er mit einer anderen Frau schläft. Natürlich betreiben wir auch Öffentlichkeitsarbeit. Viele der Gruppen, die wir beobachten, sagen in der Öffentlichkeit: »Wir wollen nur das Erbe der Weißen respektieren.« Das Zentrum sagt dann: »Und wir zeigen Ihnen, was sie sagen, wenn sie nicht vor einer Fernsehkamera stehen.«

Haben Sie auch Bizarres bei Ihren Recherchen erlebt?
Es gibt in der Naziszene wirklich einige bizarre Dinge. Es ist eine Welt voller Sex, Drogen und Rock’ n’ Roll, eine Welt voller Verschwörungen und verrückter Geschichten. Ein Beispiel ist Leo Felton. Er wurde aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen gewalttätiger Angriffe einsaß, die er als Skinhead begangen hatte. Als er rauskam, das war vor acht oder neun Jahren, entschied er sich, schwarze und jüdische Sehenswürdigkeiten anzugreifen. Er wurde dann verhaftet, als er mit seiner Skinhead-Freundin Falschgeld einsetzen wollte. Nach seiner Verhaftung kam raus, das er eigentlich schwarz ist, also halb schwarz. Sein Vater, ein schwarzer Mann, und seine Mutter, eine weiße Frau, hatten sich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Trotzdem hatte dieser Typ entschieden, Neonazi sein zu wollen. Es gibt immer wieder solche Fälle. Ich selber habe viel über Davis Wolfgang Hawke geschrieben, den Anführer einer Neonazi-Gruppe. Er war heimlich jüdisch. In einem Fall wurde ein Klan-Anführer von der Polizei verhaftet in einem Auto, in dem er mit einem schwarzen Transvestiten-Prostituierten Sex hatte.

Es gibt auch die andere Seite: Man hat den Eindruck, dass die Proteste gegen Neonazis in den USA in den vergangenen Monaten größer geworden sind. Wer trägt diesen Protest?
Ein Großteil des Widerstands kommt von Antifa-Gruppen, aber auch von Studenten und jungen Leute, die nicht Teil einer Gruppe sind. Rechte Gruppen zielen auch immer mehr auf Universitäten und linke Orte. Und sie tun es, weil sie dort die Konfrontation bekommen, die sie in die Abendnachrichten bringt. Es ist eine Provokationsstrategie, mit der sie versuchen, den Konflikt als eine Debatte über Meinungsfreiheit darzustellen. Das hat ihnen sehr geholfen.

Wie haben sich antifaschistische Gruppen in den USA in den letzten Jahren entwickelt?
Die bedauerliche Wahrheit ist, dass sie insgesamt immer gewalttätiger geworden sind. Ich will nicht alle Antifa-Gruppen angreifen, aber in den Antifa-Gruppen in den USA sehe ich mehr und mehr Leute, die zu Straßengewalt bereit sind. 2011 gab es einen unglaublichen Fall: 15 Antifas aus Indiana haben in Tenley Park, einem Vorort von Chicago, mit Schlagstöcken und Eisenstangen ein Restaurant gestürmt und ein Tisch angegriffen, an dem sieben oder acht Mitglieder einer weißen nationalistischen Gruppe saßen. Sie hatten im Internet gelesen, dass sich die Gruppe in diesem Restaurant am Sonntagmittag treffen wollte. Sie haben das Restaurants, in dem Großeltern mit ihren Kindern einen Brunch einnahmen, in eine Kriegszone verwandelt. Fünf von ihnen sind dafür ins Gefängnis gegangen. Ich setze nicht wie Trump Nazis und Antifas gleich, aber wir beobachten mehr und mehr Straßengewalt, die dem ähnelt, was wir in den letzten 20 Jahren in Europa hatten.

Sie arbeiten seit kurzem nicht mehr für das Zentrum?
Ich habe 20 Jahre für das Zentrum gearbeitet. Ich wollte schon länger ein Buch schreiben und ein paar andere Projekte verfolgen. Und wissen Sie, ich bin jetzt 62 Jahre alt, wenn ich es jetzt nicht tue, wann dann? Das Thema des Buches wird der Aufstieg der radikalen Rechten in den USA und die Kulmination dieser Entwicklung in der Trump-Administration sein.

Wie wird sich die Szene, wie wird sich das Land weiterentwickeln?
Ich denke es wird schlimmer werden, bevor es besser wird. Es ist möglich, dass wir wieder Anschläge wie den von Oklahoma erleben werden (1995 waren bei einem der schwersten rechtsterroristischen Attentate in der Geschichte der Vereinigten Staaten 168 Menschen getötet worden, Anm. d. Red.). In den nächsten 20 Jahren wird dieses Land eine große demografische Transformation durchmachen. Ich hoffe, dass wir am Ende daraus als ein besseres, wirklich multikulturelles Land hervorgehen, als eine echte Demokratie, in der keine Gruppe dominiert.

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