Schwarze Schirme gegen Straflosigkeit

In Indonesien wird jeden Donnerstag gegen den staatlichen Unwillen zur Vergangenheitsaufarbeitung demonstriert

  • Anett Keller
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Einladung kam von ganz oben und war bedruckt mit dem Garuda, dem indonesischen Staatsemblem. Suciwati Munir sei herzlich eingeladen, den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 17. August beizuwohnen, übermittelte postalisch das Büro von Präsident Joko Widodo. Doch Suciwati gab sich nicht als Menschenrechtsstaffage für die Regierung her, sondern lud statt dessen die Einladung auf Facebook hoch, versehen mit dem Kommentar: »Anstatt mich zu einer Zeremonie in seinen Palast einzuladen, würde es mich stolz machen, vom Präsidenten eine Einladung zu erhalten, wenn er einen Ad-hoc-Gerichtshof eingerichtet hat, um Menschenrechtsverletzungen wie den Mord an meinem Ehemann aufzuarbeiten.«

Suciwati ist die Witwe von Munir Said Thalib, Indonesiens bekanntestem Menschenrechtler und Träger des alternativen Nobelpreises. Im September 2004 wurde Munir mit Arsen vergiftet. Der oder die Auftraggeber des Mordes - mutmaßlich Geheimdienstler - wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Deswegen steht Suciwati gemeinsam mit zahlreichen weiteren Menschen immer wieder donnerstags vor dem Präsidentenpalast. Sie ist Teil des Kamisan (Kamis heißt Donnerstag, d. Red.) genannten Protestes. Zahlreiche Menschen versammeln sich hier Woche für Woche, viele von ihnen in schwarzer Kleidung und mit schwarzen Schirmen, auf denen in Weiß ihre Forderungen geschrieben stehen.

Ein Ad-hoc-Menschenrechtsgerichtshof war eine der Forderungen der Reformbewegung, die 1998 mit ihren Massendemonstrationen mit dafür sorgte, dass Diktator Suharto nach 32 Jahren zurücktrat. 32 Jahre antikommunistische - vom Westen wohlwollend unterstützte - Gewaltherrschaft, die 1965 mit einem Putsch und der vollständigen Zerschlagung der indonesischen Linken begonnen hatte. Zwischen 500 000 und drei Millionen Menschen wurden umgebracht, weitere Hunderttausende inhaftiert, ihre Angehörigen stigmatisiert und schikaniert.

Nachdem Suharto 1998 endlich zurückgetreten war, schien vieles möglich. Ein neues Pressegesetz kam auf den Weg, die Menschenrechte wurden mit Paragrafen gestärkt, was die Aufarbeitung der Vergangenheit voranzubringen schien. Doch die alten Eliten konsolidierten sich schnell, und wer ihnen gefährlich wurde, wie der nimmermüde Menschenrechtler Munir, wurde zum Schweigen gebracht. 2004 kam mit Susilo Bambang Yudhoyono wieder ein Ex-Militär an die Macht. Sein Schwiegervater hatte 1965 das Töten befehligt und so zogen schon die Familienbande der Aufarbeitung enge Grenzen.

An einem Donnerstag im Januar 2007 begann eine Gruppe Angehöriger von Opfern von Menschenrechtsverletzungen, ihren Protest gegen den staatlichen Unwillen zur Aufarbeitung vor dem Präsidentenpalast auf die Straße zu tragen. Inspiriert waren sie von der argentinischen Bewegung der Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution). Die schwarzen Schirme der Demonstrierenden, zunächst Schutz vor Sonne oder Regen, wurden schnell zum Symbol der Proteste. In weißen Schriftzügen wird auf den Schirmen erinnert an zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, allen voran die antikommunistischen Massenmorde von 1965/66, den Mord an der Gewerkschafterin Marsinah 1993, das Verschwindenlassen von kritischen Aktivisten und die tödlichen Schüsse auf demonstrierende Studierende 1998, den Mord an Munir 2004, zahlreiche gewaltsame Übergriffe auf religiöse Minderheiten in den vergangenen Jahren. Eine Liste auf der website von Kamisan (aksikamisan.net/) zählt mehr als zwei Dutzend Verbrechen auf, bei denen der Staat aktiv beteiligt war oder tatenlos zuschaute.

Maria Sumarsih ist eine derjenigen, die Kamisan ins Leben riefen. Die kleine Frau mit den weißen, kurzen Haaren wurde zum öffentlichen Gesicht der Donnerstagsproteste. Im November 1998 studierte ihr 20-jähriger Sohn Wawan in Jakarta und beteiligte sich dort an Demonstrationen. Zwar war Suharto bereits im Mai zurückgetreten, doch viele Aktivist*innen kritisierten die Nachfolgeregierung unter Präsident Habibie als zu wenig reformfreudig und zu nah an den alten Kräften. Das Militär zeigte am 13. November einmal mehr, wer die Macht im Staat hat. Die Armee bekam den Befehl, mit scharfer Munition auf die Studierenden zu schießen. Als Wawan einem verwundeten Freund helfen wollte, wurde er von Soldaten erschossen. Für Wawans Mutter Sumarsih ist Kamisan »ein Weg, weiter zu leben und den Kampf gegen Straflosigkeit und für Wahrheit und Gerechtigkeit zu führen«. »Unser Rechtssystem sollte uns garantieren, dass diese grausamen Taten sich nicht wiederholen können. Aber dem Recht wird keine Geltung verschafft«, kritisiert Sumarsih.

Denn die Schatten der Vergangenheit reichen weiterhin weit in die Gegenwart und die alten Eliten sichern sich ihre Pfründe. Der zur Zeit der Schüsse auf die Studierenden 1998 amtierende Verteidigungsminister, Wiranto, wurde vom derzeitigen Präsidenten Joko Widodo, den viele Menschenrechtler bei seiner Wahl 2014 als Reformer unterstützten, vor einem Jahr erneut an eine der höchsten politischen Schaltstellen befördert. Wiranto fungiert seitdem als Koordinierender Minister für Politik, Recht und Sicherheit.

Zahlreiche kritische Intellektuelle und Künstler*innen unterstützen den Kampf von Kamisan. Unter ihnen zum Beispiel die populäre Punk-Band Marjinal, die seit 2008 immer wieder donnerstags bei den Protesten vor Ort ist und kürzlich auch zum 500. Jubiläum von Kamisan spielte. Für ihn sei Kamisan ein Quell der Energie, sagt Marjinal-Gitarisst Mike, ein Weg, das Bewusstsein zu schärfen und gegen das Vergessen zu kämpfen. Das sei vor allem wichtig, damit die junge Generation nicht fortgesetzt verdummt werde, wie es in den Zeiten der Diktatur geschah. Es gehe darum, den Menschen begreiflich zu machen, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen nicht Einzelne sind, sondern die ganze Gesellschaft. In diesem Sinne habe Kamisan schon viel erreicht, so Mike. »Inzwischen ist Kamisan ein Medium über Aktivistenkreise hinaus, es gibt viele Sympathien in der breiteren Bevölkerung und Menschen verschiedenster persönlicher Hintergründe beteiligen sich an den Aktionen.«

Inzwischen gibt es Ableger der Donnerstagsdemo in fünf weiteren Städten. Zum 500. Jubiläum Anfang August bekam Kamisan neben vielen prominenten Teilnehmer*innen an den Aktionen noch ein weiteres Geschenk. Die unabhängige Journalistenvereinigung AJI - einst während der Diktaturzeit im Untergrund gegründet - stiftete Kamisan ihren jährlich ausgelobten Preis für Meinungsfreiheit, den Suardi Tasrif Award. Die Jury würdigte damit »den Kampf gegen Straflosigkeit mit gewaltfreien Mitteln, der Regierung und Medien dazu auffordert, ihre Augen vor der Wahrheit nicht zu verschließen«.

Anett Keller ist freie Journalistin und Herausgeberin des Buches »Indonesien 1965ff. - Die Gegenwart eines Massenmordes« (regiospectra, Berlin)

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