Politik kennt keine Gnade

»Wozu Religion?«, fragt Eugen Drewermann in einem Gesprächsbuch mit Jürgen Hoeren

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Gott, immer wieder Gott. An den sämtliche Fragen gehen. Aber antworten müssen wir selber. Zum Beispiel auf jede Schändung. Schändung ist all das, was aus Unterschieden zwischen Menschen herrschaftlich herausgewirtschaftet wird. Immer wieder. Von den Verbrechern des Geldes. Denen stirbt Gott nie: Sie sind ihr eigener Gott. Ihre Kirchen, das sind Regierungen und Konzerne. Gegen einen Gott, der das Leiden zulässt (weil der Mensch mit Energie darauf besteht), setzen sie täglich einen falschen Gott, der Leidende einschüchtert.

Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann will den Menschen ermuntern für den Gegenweg: Sei, der du bist, und halte mehr für möglich, als du von dir denkst und die Welt von dir will! Denn im demokratischen Staat ist der Bürger zwar frei, unter vielen Wünschen zu wählen, doch kann er niemals sicher sein, ob er sich für das entscheidet, was er wirklich braucht. Drewermann verweist auf die Dimension des Tragischen in unserer Bedürftigkeit: Der prometheische Mensch erschuf den Fortschritt und sich selbst immer wieder neu, aber inzwischen ist er blind geworden gegenüber seinem wahren Wollen. Sehend werden, das heißt: endlich wieder empfindlich werden.

»Wozu Religion?«, fragt Drewermann in diesem Buch über »Sinnfindung in Zeiten der Gier nach Macht und Geld« - ein Gespräch mit dem Journalisten Jürgen Hoeren. Dialoge über Gottesverlust in Europa, Angst vor Überfremdung, Spiralen der Gewalt, Islam, Buddhismus, Tierrechte, ewiges Leben, Medizin und Ethik. Die Botschaft Jesu besteht für den Autor - so hat er es in einem Vortrag formuliert - im Widerstand dagegen, dass wir »im Namen Gottes, im Namen des Gesetzes eine Maschinerie zur Herstellung von Stacheldraht entwerfen, um die Guten von den Bösen zu trennen, die Richtigen von den Falschen, die Ordentlichen von den Unordentlichen, die Anständigen von den Unanständigen, die Bürgerlichen von den Gestrandeten«. Blieben wir nur immer jener Moral verhaftet , die von einer Ideologie, einer Dogmatik, einer Theorie vorgegeben wird, »so können wir sehr einfach über Menschen den Stab brechen. Wir schauen auf ihre Hände, die blutig geworden sind, und dann wissen wir, welch eine Maßnahme zu ergreifen ist nach der Formel der Gerechtigkeit: Wir sind gut, weil wir erfüllt sind mit Abscheu.« Der Selbstzweifel aber, die Selbstauseinandersetzung, die Prüfung des eigenen Gewissens bleiben in solcher Unfehlbarkeitspraxis außen vor.

Wer nun meint, tätige Güte und aktive Solidarität seien nicht unbedingt ans Religiöse gebunden, hat durchaus recht. Aber was denn lässt den Glauben jedwede Zeit, jeden Wandel überdauern? Ganz einfach: Vernunft und Fortschritt helfen letztlich nicht gegen das Unfassbare, Unbegreifbare der Existenz. Die Fantasien, Erzählungen, Ermunterungen der Religion eröffnen unserem Leben jene Dimension ins Unendliche, die das Sterben nicht besiegen, den Tod aber übersteigen kann. Wir sind nicht das, wofür wir uns halten; wir sind das, was im nächsten Moment mit uns geschieht. Dies ist ein Werk unseres freien Willens, jedoch zu unbekannten Teilen wirkt und webt ein undurchsichtiger Werdungs- und Vergehensprozess. Schöpfung, Natur, kurz: das Irrationale, Geheimnisvolle, Unheimliche.

Aber aus dem Wissen heraus, dass wir so gering sind, können wir den Kreis jeder isolierten Existenz sprengen und aufeinander zugehen - schönste Notwehr in Freiheit: ein Stück Freiheit aufgeben für die des anderen. Aus Zurücknahme und nötiger Vorsicht heraus kann so das Kühnste gelingen: Mit-Menschlichkeit. Das getröstete Gewissen ist bei Drewermann das Selbstbewusstsein dessen, der seine Würde aus den guten Gründen seiner Ohnmacht bezieht. Und aus Distanz zur Macht! Es scheint freilich immer schwieriger zu werden, diesen Mut zur Nichtdazugehörigkeit mit den Pflichten zur demokratischen Mitarbeit zu verbinden. Doch unverwandt sieht es der Autor als Auftrag der zivilisierten Gesellschaft an, das Individuum aus den Lockungen jeder Vermassung durch Gleichgültigkeit herauszulösen - die das Individuelle und damit dessen Widerstandskraft, also seine Demokratiefähigkeit, abtötet.

Frei wird eine Gesellschaft erst dann, wenn sie dabei auch gegen die Entsakralisierung der Seelen arbeitet und das Religiöse bewusst aufnimmt in den Geist ihrer Öffentlichkeiten. Ich denke an die Bemerkung Gregor Gysis in einem Gespräch mit dem Pfarrer Friedrich Schorlemmer: Ein verhängnisvoller Fehler der SED sei die systematische »Entkirchlichung« gewesen. Kirche - nicht der Klerus! - sei eine Institution, die Maßstäbe für den Menschen setze, wie es keiner politischen Bewegung oder Partei möglich sei, auch keiner linken. Drewermann sagt: »Den Menschen zu begegnen mit Gnade - das wird nie eine Staatsphilosophie zu entwickeln vermögen.« Die Botschaft des Christentums erzieht nicht. Sie setzt dem Sein keine Voraussetzungen und dem Bewusstsein keine Bedingungen. Sie liefert sich so dem Schwierigsten der Zuwendung aus: der Gebrochenheit und Unwägbarkeit des Menschen - dessen Gut- und Besserwerden daher stets Fragment bleibt. »Nur die Religion kann dem einzelnen Menschen sagen, dass er berechtigt ist zu sein.« Gott ist etwas, »das die Sinnlosigkeit und Schuld aus unserem Leben nimmt«.

Die bessere Welt denken, das ist Glauben an etwas, das man selber nie erfahren wird. Glauben wird so zu jenem Blick auf das Unmögliche, den wir brauchen, weil uns das Mögliche dauernd enttäuscht. Wahrscheinlich wären wir schon gerettet, träfen wir jede Entscheidung unseres Lebens im Bewusstsein von Kostbarkeit. Die Liebe, die Zusammengehörigkeit, der Sinn - das ist sie, die Kostbarkeit. Deren Leuchten sich freilich aus der Ahnung von unabänderlicher Vergänglichkeit speist. Religion sieht dies Elend, sie trotzt und tröstet, sie ist Arbeit an einer Balance - bei der sich die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, mit Möglichkeiten des Lebens trifft, sie zu trocknen. Barmherzigkeit, Zugehörigkeit - für Drewermann ist das »revolutionär in sich«. Alles beginnt im Einzelnen - und ist nur so eine Chance fürs Ganze. Ein entschiedenes Wort wider den avantgardistischen Geist, der von außen drückt, der führt und feindet und der den Menschen gern auch mal als lenkbares Funktionsteilchen einer größeren Idee sieht. »Wenn ich erst eine Organisationszugehörigkeit brauche, um Mensch zu werden, dann bin ich weit vom Menschen entfernt.«

Glaubt Drewermann an Gott? »Ich tue mich seit Kindertagen schwer, im Sinn der Kirchenlehre an Gott zu glauben.« Dann findet er die so wahrhaftige Finte: »Ich habe Jesus seinen Gott geglaubt.« Hoeren stellt kluge Fragen, Drewermann antwortet klug. Er spricht glaubwürdig über Glaubenswürdiges. Er nennt die Religion ein »Medikament, um mit verängsteten Gefühlen umzugehen«, er weiß aber auch, »dass gerade Religion dazu benutzt wird, Gefühle so mit Angst aufzuladen, dass sie bis zum Zerstörerischen führen«. Ob Geschichte der Mystik, Entwicklungen des Kolonialismus, Historie der Hochkulturen, böse Verzweigungen der Weltpolitik - Drewermanns Kenntnis beeindruckt, überzeugt. Seine Zuspitzung regt an, regt auf. Inständig erinnert er an Sartre, in seinem Sinne »sollten wir nicht länger von Terrorismus sprechen, sondern von einer Passage der Selbstbewusstwerdung derer, die wir bisher unterdrückt haben als Nichtmenschen«.

Der Blick des Buches geht durch alle Zeiten. »Die Welt ist in keinem Punkt besser geworden.« Drewermann gehört aber nicht zu den Verzweifelten, deren Bejahungskräfte beschädigt oder korrumpiert wurden. Denn tatsächlich grassiert ja ein neuheidnischer Verzweiflungsstolz, der auch die religiösen Tröstungen verspottet. Den Theologen aus Paderborn treibt der Traum an, »den Gegensatz von Glauben und Wissen, von Gefühl und Verstand zu überwinden, damit die Menschen nicht länger von einer abergläubigen Frömmigkeit und einer ungläubigen Intelligenz zerrissen werden«.

Dieser antipäpstliche Oppositionelle, den die theologische Obrigkeit vor Jahren aus dem Priesteramt stieß - er steht »in der Kirche gegen die Kirche«. Mit diesem Buch legt der 77-Jährige erneut ein Plädoyer für gelingendes Leben vor. Unser Leben ist »schattenverwirrt«, worin besteht das Gelingen? In jenem Zorn gegen Herrschaft, dem die Liebe nicht verloren geht. In einer Freundlichkeit, die nicht winselt. In einer aufrechten Haltung, bei der man dennoch kniet vorm Wunder Leben. Existenz gelingt für Eugen Drewermann vor allem als Wehr gegen eine Welt, in der die Unterbietung des Menschen durch den Menschen als dessen Erfüllung gefeiert wird. Er macht darauf aufmerksam, worauf sich der wohlgetane Bürger einließe, wenn er das Christentum ernst nähme: Blinde und Lahme an den gemeinsamen Tisch, Ausgestoßene in die Mitte geholt!, Schmutzigen die Hand gereicht! Bertolt Brecht: »Glück ist Hilfe.«

Eugen Drewermann (mit Jürgen Hoeren): Wozu Religion? Herder Verlag. 288 S., geb., 22 €.

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