Eine kleine Geschichte der Ungleichheit

Waren Sammlergesellschaften egalitärer? Wie war die soziale Lage in Rom? Und wie entwickelte sich das Mittelalter?

  • Per Molander
  • Lesedauer: 9 Min.

Will man zu einer historischen Perspektive auf die Ungleichheit gelangen, sind eine Karte des Geländes und am besten auch ein entsprechender Maßstab erforderlich. Die Verteilung menschlicher Ressourcen kann auf zahlreichen Gebieten höchst unterschiedlich sein - nach Einkommen, Vermögen, intellektuellen Fähigkeiten, sozialem Status, sexuellen Privilegien - und es ist keineswegs selbstverständlich, dass eine hervorgehobene Position auf einem Bereich mit derselben hohen Position auf einem anderen einhergeht.

Das in modernen Untersuchungen am häufigsten eingesetzte Maß ist der Gini-Koeffizient oder Gini-Index, der Anfang des 20. Jahrhunderts von dem italienischen Soziologen Corrado Gini entwickelt wurde. Am einfachsten lässt sich der Gini-Index als ein Maß für die Differenz zwischen einer vorliegenden Verteilung von Einkommen und Vermögen und einer völlig gleichen Verteilung beschreiben. Der Gini-Koeffizient ist eine Zahl zwischen 0 und 1, er beträgt 0, wenn die Einkommensverteilung völlig gleich ist, und 1, wenn das gesamte Einkommen oder Vermögen auf eine einzige Person konzentriert ist.

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Jäger- und Sammlergesellschaften

Klassische Anthropologen wie Edward Evans-Pritchard, Marshall Sahlins und Elman Service haben diese Gesellschaften als relativ wohlhabend, friedlich und egalitär beschrieben. In späteren Jahren wurde dieses optimistische Bild modifiziert. Frühe Beschreibungen wiesen eine Tendenz zur Überbetonung der Zusammenarbeit und das Fehlen von Rangordnung und Führerschaft auf, während gleichzeitig das Aggressionsniveau unterschätzt wurde.

Dennoch trifft vermutlich die Generalisierung zu, dass in diesen Gesellschaften Männer stärker auf Kooperation ausgerichtet, die Statusunterschiede noch wenig ausgeprägt und die Entscheidungsfindung kollektiver erfolgte als in den uns bekannten Primatengesellschaften und in ortsfesten Gesellschaften.

Studien aus unterschiedlichen Teilen der Welt lassen in der späten Altsteinzeit, im Paläolithikum und in der Mittelsteinzeit - das heißt vor einigen Zehntausenden von Jahren - zunehmende soziale Unterschiede erkennen, die Spuren in Form von durch bestimmte Individuen kontrollierte Lagergebäude, von Wertgegenständen und so weiter hinterließen.

Für Jäger- und Sammlergesellschaften konnte man niedrige bis mittlere Gini-Koeffizienten zwischen 0,2 und 0,5 für alle drei Ressourcen feststellen, was sich damit erklärt, dass die Übertragung zwischen Generationen mäßig, aber gleichzeitig ausreichend genug ist, um die Lebenschancen des Individuums zu beeinflussen. Auch in diesen Gesellschaften spielte es also eine Rolle, wen man als Eltern hatte.

Gesellschaften mit Gartenbau

Bei den Gesellschaften mit Gartenbau (Hortikulturisten) handelte es sich um Gesellschaften mit einer rudimentären Produktion von landwirtschaftlichem Saatgut ergänzt durch Fischerei, Jagd und andere Formen der Nahrungssuche. Hohe Mobilität, begrenzte Lagerung und kleine Gemeinschaften sind Faktoren, die innerhalb dieser Gesellschaften zu relativ egalitären Verhältnissen führten. Dennoch ist der Gini-Koeffizient bisweilen recht hoch, insbesondere aufgrund einer niedrigen Übertragung zwischen den Generationen. Der Schluss hieraus lautet, dass nicht die landwirtschaftliche Aktivität an sich zu gesteigerter Ungleichheit führt, sondern vielmehr die Kontrolle und Monopolisierung von Schlüsselressourcen, wie etwa Know-how und materielle Ressourcen, zum Beispiel Wasser oder Rohstoffe.

Gesellschaften mit Viehzucht

In Gesellschaften mit Viehzucht ist die Übertragung von Ressourcen zwischen den Generationen größer, insbesondere bezüglich der materiellen Ressourcen. Dies findet seine Erklärung anhand mehrerer Faktoren: Vorteile des Großbetriebs innerhalb der Viehzucht, Geschenke und Erbschaften innerhalb der Familie und die Nutzung von Netzwerken im Zusammenhang mit Eheschließungen, Unglücksfällen und anderen wichtigen Ereignissen. Netzwerke sind besonders wichtig, wenn eine Gesellschaft von Trockenheit betroffen ist; beispielsweise verfügt eine wohlhabende Familie über erheblich größere Möglichkeiten zur Aufnahme von Anleihen, um eine solche Periode zu überstehen. Dennoch liegt der Gini-Koeffizient solcher Gesellschaften typischerweise zwischen 0,4 und 0,5 und kann sich in extremen Fällen 0,7 nähern.

Frühe Staatsbildungen

Mit der Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu einem Überschuss, der manche Individuen von einer Bestellung des Bodens befreite. Dies begünstigte die Entwicklung spezialisierter Berufsgruppen: qualifizierte Handwerker, Bürokraten und Priester. Staaten setzen Arbeitsteilung voraus, und die klassische Dreiteilung Pflug, Schwert und Buch steht für die Hauptkategorien.

Die frühen Staatsbildungen zeigen einige der extremsten Beispiele für Ungleichheit, die die Geschichte kennt. Unter Verwendung derselben Messmethoden, die man für Jäger- und Sammlergesellschaften und für Übergangsgesellschaften benutzte, konnte man feststellen, dass der Gini-Koeffizient der ersten Staaten innerhalb eines breiten Spektrums von 0,2 bis 0,7 variierte. Materielle Ressourcen waren nun die wichtigste Komponente des Wohlstandes insgesamt und die Übertragung zwischen den Generationen spielte eine signifikante Rolle.

Insgesamt bestätigt sich also das Bild einer Verstärkung der Ungleichheit auf dem Weg des Menschen von einfachen Jäger- und Sammlergesellschaften zu entwickelten Staaten. Ein wesentlicher Teil der Erklärung findet sich in der graduellen Stärkung der materiellen Komponente und in der Tatsache, dass dieses Element am leichtesten von einer Generation zur nächsten übertragen werden kann. Jedoch ist diese Entwicklung von vielen Verwerfungen und Unterbrechungen begleitet, was auch auf den weiteren historischen Verlauf zutrifft.

Athen und Rom

Durch die Geschichtsschreibung, die sich in Griechenland und in Rom entwickelt hatte, verfügen wir für diese Gesellschaften über bessere Kenntnisse als für die vorangegangenen. Dennoch ist es schwierig, ein konkretes Bild der Lebensverhältnisse und der Verteilung des Wohlstandes zu erstellen. Nach einer Schätzung besaßen in Athen die reichsten acht bis neun Prozent der Bevölkerung 30 bis 35 Prozent des Bodens. Auch nach modernen Maßstäben gilt dies als recht gleichmäßige Verteilung. Eine andere interessante Schätzung gibt an, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Athener Bevölkerung lese- und schreibkundig waren, was eine vergleichsweise hohe Zahl ist.

Aber auch das Bild des demokratischen Athens hat seine Schattenseiten. Sklaverei war verbreitet, und ebenso wie Frauen und Einwanderer waren Sklaven vom politischen Leben ausgeschlossen.

Im Athen des 6. Jahrhunderts wurde mit den Reformen Solons einer der ersten größeren Versuche einer materiellen Umverteilung unternommen, was als Anzeichen einer stark ungleichen Verteilung des Wohlstandes zu werten ist. Solons Programm zur Abschreibung von Schulden bestand in der Entfernung der Horoi, der Pfeiler oder Landmarken, die zu erkennen gaben, dass ein bestimmtes Landstück von jemandem genutzt wurde, der bei den großen Landbesitzern in Schuld stand. Hinzu kamen die Freigabe derjenigen, die in Folge von Verschuldung versklavt worden waren, und schließlich ein Verbot, den eigenen Körper als Sicherheit für Darlehen einzusetzen.

Der Gini-Koeffizient für die Einkommensverteilung im klassischen Rom wurde auf 0,37 bis 0,4 berechnet. Dies mag niedrig erscheinen, da diese Zahl der für die heutigen USA entspricht, jedoch war die Anzahl der uns aus der klassischen Geschichte bekannten extrem reichen Personen so gering, dass sie die Einkommensverteilung nicht nennenswert beeinflusste.

Soweit uns bekannt ist, war Hunger im antiken Griechenland und in Rom extrem selten. Aus Athen werden einige ernste Hungerperioden berichtet, die jedoch alle mit Belagerungen in Zusammenhang stehen. Athen und Rom waren beide von Getreideimporten abhängig, die Behörden scheinen sich der politischen Risiken jedoch sehr bewusst gewesen zu sein und sorgten durch Bevorratung erfolgreich vor.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die klassischen Gesellschaften - und selbst Athen, das eine demokratische und verhältnismäßig egalitäre Ausnahme darstellte - von erheblicher Ungleichheit gekennzeichnet waren. Vom Anbeginn der Geschichte und in der klassischen Epoche bestand das Leben des absolut größten Teils der Bevölkerung für den meisten Teil der Zeit in einem Kampf ums Überleben.

Mittelalter

Die Faktengrundlage über Einkommen und Vermögen im Mittelalter ist nicht sehr viel besser als für die frühere Geschichte. Zwar gibt es gewisse punktuelle Angaben, wie zum Beispiel das Domesday Book, das Urbarium Wilhelm des Eroberers aus dem späten 11. Jahrhundert, zumeist beruhen unsere Kenntnisse aber auf qualitativen Beschreibungen.

Allgemeine Schlüsse lassen sich zumindest anhand genereller Daten ziehen. Eine erste Feststellung lautet, dass die Bevölkerung Westeuropas um das Jahr 1000 ebenso groß war wie um das Jahr 0. Während moderne Länder sich in einem demografischen Gleichgewicht mit einer konstanten Bevölkerungszahl auf hohem materiellen Niveau befinden, traf das auf das mittelalterliche Europa nicht zu. Pro Jahr fiel das Bruttonationalprodukt pro Kopf in Westeuropa vom Jahr 0 bis zum Jahr 1000 um durchschnittlich 0,01 Prozent jährlich. An sich sagt diese Ziffer nichts über die Verteilung des Wohlstandes aus, jedoch gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass sich während dieser langen Periode mit negativem Wachstum die Lebensverhältnisse zum Besseren änderten.

Auch die bei der Geburt zu erwartende Lebensdauer erlaubt Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse. Für Ägypten zu römischer Zeit betrug sie 24 Jahre und ist somit nur unbedeutend niedriger als die für das England des 14. Jahrhunderts (24,3 Jahre). Die Zahlen aus dem 14. Jahrhundert werden von der Pest bestimmt, die Mitte des Jahrhunderts Europa überfiel und mit begrenzteren Pestepidemien bis Ende des 17. Jahrhunderts einige Male zurückkehrte. Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Pest besiegt war, lag die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt noch immer bei recht bescheidenen 33,7 Jahren. Zum Bild gehört, dass sich die Urbanisierung, die sich in der europäischen Geschichte später negativ auf die Bevölkerungszahl auswirkte, während des Mittelalters nicht sonderlich entwickelte.

Ein wenig Licht auf die mittelalterliche Entwicklung vermögen punktuelle Schätzungen zu werfen: Auf der Grundlage des Domesday Book Wilhelms des Eroberers und eines von 1279-1280 erstellten Urbariums, The Hundred Rolls Survey, haben britische Wirtschaftshistoriker die Möglichkeit englischer Bauern zur Selbstversorgung miteinander verglichen. Während dieser beiden Jahrhunderte nahmen sowohl die Ungleichheit wie die Armut zu. Zum Zeitpunkt der ersten Steuerschätzung konnte der absolut größte Teil der bäuerlichen Haushalte sich allein durch die Bestellung des eigenen Bodens versorgen. Zwei Jahrhunderte später war das nur noch einer Minderheit zwischen 15 und 30 Prozent möglich und man war, um überleben zu können, zu zusätzlicher Lohnarbeit gezwungen. Grund hierfür sind im 13. Jahrhundert vorgenommene Änderungen in der Gesetzgebung, die es gestatteten, Teile seines Landbesitzes zu verkaufen, um Jahre mit Missernten zu überstehen - eine kurzsichtige Lösung, die auf lange Sicht die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Kleinbauern untergruben. Der Mechanismus hinter der zunehmenden Ungleichheit ist also der gleiche wie in Athen vor den Reformen Solons.

Ein anderes Bild aus dem mittelalterlichen Paris liefern die Steuerverzeichnisse aus der Regierungszeit Philips des Schönen um das Jahr 1300. Der berechnete Gini-Koeffizient beträgt 0,7 - also Ungleichheit auf hohem Niveau. Auch für Länder außerhalb Westeuropas liegen Schätzungen vor. Die Ziffer für Byzanz um das Jahr 1000 liegt bei 0,41. Wie die ähnliche Ziffer für das antike Rom mag das niedrig erscheinen, bei einer Überprüfung mithilfe anderer Maßstäbe zeigen sich jedoch recht ungleiche Verteilungen. In Byzanz sicherte sich das reichste Prozent der Bevölkerung mindestens 30 Prozent des Einkommens, während die entsprechende Zahl für Rom 16 Prozent beträgt.

Über einen längeren historischen Zeitraum betrachtet, gibt es eine deutliche Tendenz zu gesteigerter Ungleichheit. Die Ungleichheit nähert sich dem Niveau an, welches das Entwicklungsniveau zulässt - der Grenze zur Ungleichheit. Wird ein von Gleichheit geprägtes soziales Gleichgewicht gestört und gewisse Gruppen oder Individuen erlangen im Kampf um die Macht die Oberheit, gibt es keine natürliche Kraft, die die Gesellschaft zu einem früher existierenden Gleichgewicht zurückführt. Rasche Veränderungen in der Umgebung, wie technischer Fortschritt oder andere Entdeckungen können neue Wege zur Macht und damit zu einer Verteilung des Wohlstandes öffnen.

Das wichtigste Beispiel hierfür ist vielleicht die Modernisierung Europas und der Aufstieg des Bürgertums. Doch auch in solchen Situationen werden die neuen Möglichkeiten häufig am effektivsten von den früheren Machthabern verwertet, und die allgemeine Machtstruktur kann deshalb eine derartige Phase der Veränderung relativ unbeschadet überstehen.

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