Ministerin und Polizei sind verantwortlich

Der Jurist Roberto Cipriano über das Verschwinden des Aktivisten Santiago Maldonado in Argentinien

  • Lesedauer: 5 Min.

Am 1. August 2017 verschwand Santiago Maldonado bei einer Zwangsräumungsaktion gegen die Mapuchegemeinde Cushamen in der argentinischen Provinz Chubut. Herr Cipriano, nachdem die Familie von Maldonado sich mit der Gedächtniskommission in Verbindung gesetzt hat und die Kommission als Kläger in den Fall eingestiegen sind, sind Sie zusammen mit Nora Cortiñas, einer Mutter des Plaza de Mayo, nach Chubut gereist. Was wurde Ihnen über das Geschehen dort berichtet?
Am 1. August führte die Polizei einen Zwangsräumungsversuch auf dem von Mapuche besetzten Gebiet durch. Dabei, so berichten es die Mapuche, ging sie mit Schusswaffen auf die Indigenen los und brannte deren Zelte nieder. Santiago, der selbst kein Mapuche ist, sondern sich nur mit deren Forderungen solidarisiert und zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist war, floh mit den Angegriffenen in Richtung des Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg durch das Gewässer wieder um und verbarg sich in einem Busch, wo ihn die Polizei fand. Nachdem sie ihn zusammengeschlagen hatten, zerrten sie ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche war es Pablo Noceti, der Vorsitzende des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, der die Operation persönlich leitete. Er ist die rechte Hand von Patricia Bullrich, der Ministerin für innere Sicherheit. Deswegen sagen wir auch, dass die Regierung Bescheid weiß und der Staat verantwortlich ist.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie die Gemeinde Cushamen besuchen, nicht wahr?
Nein, wir kennen und begleiten sie seit einigen Jahren. Sie ist bereits mehrfach Opfer gewalttätiger Übergriffe der Polizei geworden, denn das von ihnen reklamierte Territorium liegt auf den 900 000 Hektar in Patagonien, die der Multimillionär und Unternehmer Luciano Benetton gekauft hat. Seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit, fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Der Konflikt schwelt also schon seit Langem, ist aber erst 2015, also noch unter der Vorgängerregierung von Cristina Fernández de Kirchner, richtig ausgebrochen.

Zur Person

Roberto Cipriano (49) ist Anwalt mit Spezialgebiet Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit 2005 ist er Sekretär und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires (CPM), der auch der Träger des alternativen Nobelpreises Adolfo Pérez Esquivel angehört.

Cipriano nimmt über die CPM als Nebenkläger im Fall Santiago Maldonado teil, der seit dem 1. August nach einer Polizeiaktion verschwunden ist. Mit Cipriano sprach für »nd« Bettina Müller.

Wie ist der aktuelle Stand?
Inzwischen sitzt der Lonko (Anführer) der Gemeinde, Facundo Jones Huala, im Gefängnis und es wird versucht, die Mapuche als Terroristen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Die Wahrheit ist, dass sie eine Gefahr für das Privateigentum und die Geschäfte der Regierung mit unterschiedlichen Unternehmern darstellen. Um die Mapuche und ihre Forderungen zu diskreditieren, ist sogar der argentinische Geheimdienst eingeschaltet worden, mit der Aufgabe, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen. Wir wissen, dass auch gut 100 Mapuche als vermisst gelten, da sie jedoch häufig nicht registriert sind, ist es schwierig, ein Verfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten.

Im Fall Santiago Maldonado weist die Ministerin Patricia Bullrich alle Verantwortung von sich und den Einsatzkräften. Konntet ihr bereits Beweise finden, dass die Aussagen der Mapuche tatsächlich zutreffen?
Ja, die Spürhunde haben in dem Busch, in dem sich Santiago versteckte, sein Armband und eine Mütze gefunden. Dort waren auch Blutspuren, die derzeit noch untersucht werden. Außerdem hat das zuständige Gericht den Status der Anklage vor zwei Tagen von »Untersuchung des Deliktes« auf »erzwungenes Verschwinden« (desaparición forzada) geändert, was impliziert, dass Mitarbeiter des Staates an dem Verschwinden auf irgendeine Weise beteiligt sind. Das ist vor allem für die öffentliche Wahrnehmung sehr wichtig, denn die Massenmedien und die Regierung haben bislang versucht, den Fall unter den Tisch zu kehren und alle möglichen Geschichten zum Verbleib von Santiago erfunden. Am Anfang wollten sie uns sogar davon überzeugen, dass Santiago zum Tatzeitpunkt überhaupt nicht in der Gemeinde gewesen wäre, dass die Mapuche lügen und die Familie von Santiago unzureichend kollaboriere, weshalb die Justiz nicht vorankomme. Aber der Kreis schließt sich immer enger um die Ministerin und die Polizei. Von allen Seiten wird nun der Ruf nach ihrem Rücktritt lauter.

Welche Schritte haben Sie auf der Suche nach Santiago bislang unternommen?
Mal abgesehen davon, dass wir als Kläger in dem Fall direkt involviert sind, haben wir eine nationale und internationale Öffentlichkeitskampagne mit der Forderung nach dem Erscheinen von Santiago gestartet: »Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück«. Diese schließt auch Demonstrationen, ökumenische Gottesdienste und Nachtwachen ein. Es ist entscheidend, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen und in Scharen auf die Straßen zu gehen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davon kommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist.

Die Regierung Macri kriminalisiert zusehends Aktionen zivilen Ungehorsams. Denken Sie, dass es in Zukunft noch zu weiteren Fällen wie jenem von Santiago kommen kann?
Das ist möglich. Ich glaube allerdings nicht, dass die Regierung einen systematischen Plan zum Verschwindenlassen von Menschen verfolgt, so wie es die Militärdiktatur von 1976-83 getan hat.

Es stimmt, dass wir eine Zunahme der Kriminalisierung des Protestes beobachten. Gesetze werden eingeschränkt oder nicht angewandt, wie beispielsweise das in der Verfassung verankerte Gesetz zum Schutz der Territorien der indigenen Bevölkerungen. Zudem ist die Politik der Regierung in Menschenrechtsfragen rückschrittlich, was nicht überrascht, da eine Reihe von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern die Gräueltaten der Diktatur beschönigen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass die Regierung von Mauricio Macri demokratisch gewählt wurde, die Justiz, obgleich mangelhaft, funktioniert und das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit heute verfassungsmäßig geschützt ist. Die Situation ist also eine andere als vor 40 Jahren. Aber gerade deshalb ist es absolut inakzeptabel, dass die Ministerin die Untersuchungen durch die Zurückweisung jeglicher Verantwortung praktisch behindert und dabei vom Präsidenten selbst den Rücken gestärkt bekommt. Santiago muss auftauchen - und zwar jetzt!

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