Schulz entfacht neue Türkei-Debatte
EU-Beitrittsverhandlungen sollen Gipfelthema werden
Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will beim EU-Gipfel im Oktober mit den anderen Staats- und Regierungschefs über einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beraten. Das sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte am Sonntagabend während der TV-Debatte mit Merkel angekündigt, bei einem Wahlsieg das Ende der seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen beantragen zu wollen. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) stellte sich hinter diese Ankündigung. »Der Außenminister teilt die Position von Herrn Schulz«, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts.
Ein Abbruch der Verhandlungen muss von den 28 Mitgliedern der Europäischen Union einstimmig beschlossen werden. Der nächste EU-Gipfel findet am 19. und 20. Oktober in Brüssel statt.
Ein Sprecher der EU-Kommission warnte vor einem überstürzten Vorgehen und plädierte dafür, die Ereignisse der vergangenen Monate »ruhig« zu bewerten.
Der Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan warf Merkel und Schulz »Populismus« vor. Die Äußerungen der beiden bei dem TV-Duell am Sonntagabend befeuerten »Diskriminierung und Rassismus«, schrieb Ibrahim Kalin am Montag im Kurzbotschaftendienst Twitter. Der Auftritt habe gezeigt, dass es egal sei, wer die Bundestagswahl gewinne, schrieb Kalin.
Der Nachrichtensender CNN Türk erlaubte sich eine kleine Frechheit: Vor der Aussage des SPD-Kanzlerkandidaten Schulz, er werde als Kanzler den Abbruch der Beitrittsverhandlungen beantragen, schrieb man den Namen um in »Schluz«, was Leser mit etwas Deutschkenntnissen an »Schluss!« erinnern sollte. Ansonsten war das Presseecho eher gering und unaufgeregt, was auch damit zusammenhängen mag, dass die meisten Journalisten nach einem wegen des islamischen Opferfestes verlängerten Wochenendes erst am Montagmorgen an ihre Schreibtische zurückkehrten.
Einige Breitseiten feuerten Erdogan-nahe Medien wie die vor einigen Jahren von seinem Schwiegersohn Berat Albayrak mit Hilfe staatlicher Banken gekaufte Zeitung Sabah (Der Morgen). Die einzige Gemeinsamkeit von Merkel und Schulz sei, dass sie die Türkei »nicht verdauen« könnten, schrieb die Sabah. Dazu gab es ein nicht vorteilhaftes Bild von Angela Merkel, kombiniert mit der rhetorischen Frage, ob ihr wahres Problem nicht »Seitenstechen« wäre.
Besonders ernst nehmen muss die Türkei die Ankündigung von Schulz wohl nicht, weil der Abbruch der Beitrittsverhandlungen einen einstimmigen Beschluss aller Mitgliedsstaaten voraussetzt.
Einem Einfrieren des Beitrittsprozesses müssten hingegen nur 16 Staaten mit zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU zustimmen. Das wäre auch der einzige Weg, Beitrittshilfen von noch etwa vier Milliarden Euro zu verweigern. Das würde einen gewissen Druck entfalten, wäre aber noch immer weniger Geld als die Türkei aus Merkels Flüchtlingsdeal bekommt, den auch Schulz nicht antasten will.
Ein anderes Druckmittel ist schon gezückt: Merkels Ankündigung, es werde ein Deutsches Veto gegen eine Erweiterung der Zollunion geben. jak/Agenturen
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.