Üstra hat weiter alles im Blick

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

»Popel nicht - da oben guckt einer zu!« Mütter, die kleine Nasebohrer in der U-Bahn so ermahnen, haben nicht geschwindelt. Zumindest nicht in Hannover. Rund um die Uhr nehmen Videokameras dort in den Bahnen und Bussen des Verkehrsbetriebs Üstra alle und alles ins Visier. Den untreuen Ehemann, der seiner Geliebten ein Küsschen gibt ebenso wie den gestressten Anwalt, der heimlich einen Flachmann wegkippt oder den Fußball-Bundestrainer, der sich irgendwo kratzt. Doch der dürfte sich kaum unter die fast 180 Millionen Fahrgäste mischen, die sich jährlich von der Üstra kutschieren lassen. Sie alle darf das Unternehmen rund um die Uhr filmen, entschied Niedersachsens Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg jetzt in letzter Instanz.

Befassen musste sich die Justiz mit der Filmerei, weil sie 2014 verboten worden war: von der Landesbeauftragten für den Datenschutz, Barbara Thiel. Sie hatte die »schwarzen Augen«, die Kameras in Bahnen und Bussen als »totale Überwachung« gewertet und zugleich deren Effektivität angezweifelt. Die Kameras, so Thiel seinerzeit, suggerierten zwar ein Gefühl der Sicherheit, aber: Falls sich eine Straftat in der Bahn ereigne, führe die Aufzeichnung nicht zum Anrücken der Polizei, wie es sich bedrohte Fahrgäste erhofften. Allenfalls könnten die Aufnahmen dazu beitragen, dass Verdächtige später überführt werden. Dass die Kameras potenzielle Straftäter abschreckt, sei wissenschaftlich nicht erwiesen.

Die Üstra aber beharrte darauf, weiter alle und alles im Blick haben zu dürfen. Nicht nur auf einzelnen Strecken und zu bestimmten Zeiten, etwa nach »riskanten« Fußballspielen, sondern überall und immer. Die Aufzeichnungen würden ja, so argumentierte das Unternehmen, nach 24 Stunden gelöscht. Und sie würden nur dann polizeilich ausgewertet, wenn es in der Aufnahmezeit einen Vorfall gegeben hat, der strafrechtliche Ermittlungen nach sich zieht. Das Verbot der Datenschutzbeauftragten müsse aufgehoben werden, forderte der Verkehrsbetrieb, zog vors Verwaltungsgericht in Hannover und bekam Recht.

Auch das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, bei dem die Datenschutzbeauftragte Berufung eingelegt hatte, entschied jetzt zugunsten der Üstra. Die Videoüberwachung sei mit dem Bundesdatenschutzgesetz vereinbar, stellte es fest, und: Der Kameraeinsatz diene »der Wahrnehmung berechtigter Interessen« der Üstra, insbesondere der Verfolgung und Verhütung von Straftaten gegen die Einrichtungen des Unternehmens. Im Klartext: Die Videoaugen sollen Rowdys davor abschrecken, Sitze in Bussen aufzuschlitzen, Bahnfenster zu beschmieren oder sonstige Schäden anzurichten. Die »schutzwürdigen Interessen« der Fahrgäste, die von den Kameras erfasst werden, seien mit den Interessen des Unternehmens abgewogen worden, so das OVG. Jene Betrachtung sei dann »zugunsten der von der Üstra geltendgemachten Belange« ausgefallen.

Bei der Üstra freut man sich über den Spruch aus Lüneburg. Damit sei »Rechtsgeschichte geschrieben« worden, heißt es aus dem Unternehmen. Rechtsmittel gegen das Urteil, also eine Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht, hat das OVG nicht zugelassen. Gegen diese Nichtzulassung allerdings könnte die Datenschutzbeauftragten Beschwerde einlegen.

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