Mit verschiedenen Zuständen gefüllt

Die Volksbühnen-Saison eröffnet mit viel Ringelpietz

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Das ist schön. In dem Video, das wir sehen, ist ein junger Mann bei Schlenker- und Schlackerbewegungen zu sehen. Es handelt sich bei ihm um einen jener jungdynamischen Tanztheateronkels, die der neue Intendant der Volksbühne (ehemals: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz), Chris Dercon, engagiert hat. Boris Charmatz ist sein Name. Der »Choreograf ist nicht nur ein kluger Kopf, er versteht es auch, seine Arbeiten clever zu vermarkten« (»Tagesspiegel«). Seine erste Produktion für die erste Spielzeit der neuen Volksbühnenintendanz kündigt er an als »ein großes Ereignis«. Mhmm. Ein großes Ereignis. Tja, das ist natürlich gut. Große Ereignisse braucht eine europäische Großhauptstadt wie Berlin dringend, davon gibt es ja noch viel zu wenig. Wir haben in der Stadt zwar schon mehrere große Mehrzweckhallen, große Shopping Malls, große Konzernfilialen, große Gentrifizierungs- und Verelendungsgebiete, große Großfressfeste, große Großbesäufnisse und große Baustellen, auf denen noch weit mehr größenwahnsinniger Mumpitz entsteht, da dürften weitere große Großereignisse auch nicht mehr viel kaputtmachen, denn Berlin ist aufgrund der oben aufgezählten ja schon hässlich genug.

»Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof«, brüllt es einem aus den Pressemitteilungen der Volksbühnenleitung marktschreierisch entgegen. Das zehnstündige Charmatzsche Tanzspektakel »Fous de danse«, das am Sonntag auf dem Tempelhofer Feld stattfinden soll, sei wie »eine riesige Open-Air-Party«, schwärmt der »Tagesspiegel« schon vorab begeistert, denn der »Tagesspiegel« versteht sich als »Leitmedium« der Hauptstadt. Ja, wer da mittanzen könnte! Da werden sich die mittlerweile zahllosen Arbeits- und Obdachlosen in der Stadt sicher freuen. Charmatz ist aber auch ein »Denker« (»Tagesspiegel«): »Etwas vergeht und wir akzeptieren, dass es vergeht. Das ist etwas sehr Emotionales, weil es eng mit der Erfahrung von Verlust zu tun hat« (Charmatz). Potzblitz! Na, da schau her!

Die penetrante Diktion des Gigantomanischen und Superlativischen, die aus der Sprache der Reklame kommt, hat bereits vollständig das gegenwärtigen Kulturgeschehen durchdrungen: »Ganz Berlin« muss es, geht es nach den neuen Kulturmarktschreiern, immer sein oder »ganz Deutschland«. Wo kämen wir auch hin, wenn einer ausscherte aus dem ganz großen hauptstädtischen Tanz-, Event- und Mitmachkollektiv? Wie lauteten die allerersten, noch stark an esoterisches Therapiestundengeschwätz erinnernden Sätze, die das neue Volksbühnenteam noch vor kurzer Zeit auf Facebook postete, so schön? »Die Sinne schärfen. Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden.«

Jetzt aber klingt der angeschlagene Ton schon anders. Irgendwie zackiger, dicker aufgetragen, und doch genauso hohl und nichtssagend wie vom Reklamezettel für die neue Tanz-Show von RTL 2 abgeschrieben und mit ein, zwei ebenso schick wie wichtig klingenden Fremdworten aus dem Cultural-Studies-Seminar aufgepeppt: »Aufwärmen, partizipative Choreografien, Ensembleszenen, ein riesiger Soul-Train, traditionelle Tänze, ein Bewegungslabyrinth aus Solo-Tänzen und ein Dancefloor folgen in einem wilden Rhythmus aufeinander.« Aufwärmen! Bewegungslabyrinth! Wilder Rhythmus!

Den Ankündigungen zufolge erwartet uns am kommenden Sonntag also eine Mischform aus Karneval der Kulturen, rhythmischer Sportgymnastik, großer Schlagernacht des Jahres, Love Parade, einem bunten André-Heller-Revue-Potpourri, Ringelpietz mit Anfassen und postmodernem Motivationstrainingsblabla. Und das ist ja auch genau das, was dieser Stadt noch fehlte. Eine »temporäre tanzende Gemeinschaft«, so heißt es, beabsichtige man zu schaffen. Obendrein will man »die mineralische Oberfläche des Tempelhofer Flugplatzes mit Körpern und verschiedenen Zuständen füllen, eine choreografische Form erfinden, die sich mit der Zeit verändert, und das Publikum einladen, an dieser Metamorphose des Raumes und der von ihm aufgenommenen Gesten teilzunehmen«.

Aus dem Volksbühnischen ins Verständliche zurückübersetzt, dürfte das ungefähr heißen: Ein Haufen geltungssüchtiges und schaulustiges Volk soll das Tempelhofer Feld mit sich vollmachen und dort schön Volksbühnenreklame und total verrückte Sachen machen. Berlin, die total crazy Mitmachhauptstadt! Sei auch du dabei! Alle sollen bitteschön bei dieser Riesenkunstgaudi, einer Mischung aus Volkstanztag, nordkoreanischem Arirang-Festival und Bumsfallera, mitmachen, vom Säugling bis zum Greis. Nur die Miesepeter, Nörgelonkel und Griesgrame sollen bitteschön draußen bleiben, die wollen wir nicht dabeihaben, wenn so Hochwichtiges und Bedeutendes geschieht wie die Befüllung der »mineralischen Oberfläche mit verschiedenen Zuständen«! Heissa! Wer da lustig mitfüllen und mitgestikulieren kann im postmodernen Gestenaufnahmeraum Tempelhofer Feld, dem winkt vielleicht am Ende gar der Berliner Tanzgeologenpreis!

Die Reaktionen im Netz auf die Ankündigung dieses infantilisierten Massenspektakels ließen nicht lange auf sich warten. »Ah, eine Kindergartenveranstaltung«, kommentierte etwa Alexandra Andreew auf Facebook. Personalie Seite 2

Tempelhofer Feld: »Fous de danse«, 10.9., 12 bis 22 Uhr, Eintritt frei

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