Braune Flecken auf der Pille

Der von Bayer geschluckte Berliner Verhütungsspezialist Schering lieferte Hormonpräparate für Sterilisierungsversuche der Nazis und später für die »Bevölkerungspolitik« in der Dritten Welt

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Die Übernahme des Pharma-Unternehmens Schering macht den Leverkusener Multi Bayer zum größten Arzneihersteller der Bundesrepublik. Dabei schluckte der Konzern so manche bittere Pille. Jan Pehrke, Vorstandsmitglied der »Coordination gegen Bayer-Gefahren« skizziert nachfolgend anhand der existierenden Literatur über die Konzerngeschichte des Berliner Verhütungsspezialisten, welche Hypotheken aus der Schering-Vergangenheit Bayers IG-FARBEN-Erbe »bereichern«.
1851 kaufte Ernst Schering eine Apotheke und legte damit den Grundstein zur Geschichte des Berliner Pharma-Konzerns. Bald darauf gründete er eine Fabrik zur Herstellung von Arzneistoffen und Chemikalien, die er 1871 in eine Aktiengesellschaft umwandelte. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet diese in ökonomische Schwierigkeiten und verlor ihre Selbstständigkeit. Die Oberschlesischen Kohlewerke übernahmen die Aktienmehrheit. Erst seit 1937 firmiert Schering wieder unter eigenem Namen.
Auch sonst gedieh das Unternehmen während der Nazi-Zeit. Es profitierte von der »Arisierung« jüdischen Besitzes und erwarb die Firmen DEGEWOP und Scherk sowie einige Berliner Apotheken zum »Schnäppchenpreis«. Durch die Beschlagnahme von »Feindvermögen« erhielt Schering Aktien der holländischen Firma Brocades. Die Raubzüge der Nazis im Osten bescherten dem Konzern die tschechoslowakischen Fabriken »Aussig I« und »Aussig II«. Vor der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen schreckten die Konzern-Herren ebenfalls nicht zurück.

"Negative Bevölkerungspolitik"
Und schließlich unterstützte das als »kriegswichtiges Unternehmen« eingestufte Schering-Werk die NS-Vernichtungspolitik auf einem kleinen Umweg. Die Nazis töteten nämlich nicht nur »unwertes Leben«; sie wurden auch »präventiv« tätig. »Unter Zerstörung verstehe ich nicht unbedingt die Ausrottung dieser Menschen. Ich werde einfach systematische Mittel anwenden, den Nachwuchs dieser Bevölkerung zu unterbinden«, sagte Adolf Hitler und setzte auf willige Helfer unter den Medizinern. Einen solchen fand er in Professor Carl Clauberg. Während seiner Zeit an der Universität Kiel leitete er für Schering die klinische Erprobung der Hormon-Präparate »Progynon« und »Proluton«. Später arbeitete der mit einem Jahressalär von 21 144 Reichsmark bestbezahlte externe Mitarbeiter des Konzerns an einer Technik zur Massensterilisation. Das brachte ihm ein Empfehlungsschreiben des SS-Reichsarztes Ernst Grawitz an Himmler ein. »Bei der unerhörten Bedeutung, die ein solches Verfahren im Sinne einer negativen Bevölkerungspolitik haben würde, ... erlaube ich mir daher, Reichsführer, den Vorschlag, Prof. Clauberg ein entsprechendes Forschungsinstitut in oder bei Königshütte einzurichten und diesem ein Frauenkonzentrationslager für etwa zehn Personen anzugliedern«, heißt es darin. Ein Jahr später, nach dem Scheitern früherer Experimente, darf Clauberg Himmler im Führerhauptquartier persönlich seine Pläne zur Sterilisierung von Männern mittels Röntgenstrahlen und der von Frauen mittels einer Reizflüssigkeitsinjektion unterbreiten. Im Herbst 1942 macht sich der inzwischen zum SS-Brigadeführer aufgestiegene Clauberg gemeinsam mit dem bei Schering wegen Krankheit beurlaubten Paul Göbel im KZ Auschwitz-Birkenau an die Arbeit, wobei ihm das Berliner Unternehmen die benötigten Medikamente und Röntgenkontrastmittel liefert. Hatte Clauberg ab 1938 bereits hochdosiertes »Progynon« und »Proluton« ohne Rücksicht auf Verluste an Frauen getestet, so ging er bei den Menschenversuchen im KZ noch rücksichtsloser vor. »Nach dem Erwachen lag ich wieder auf meiner Pritsche und war im Unterleib vollkommen verblutet. Ich bekam dann so furchtbare Schmerzen, dass ich mich wand wie eine Schlange. Ich grub mir vor Schmerzen die Fingernägel ins Fleisch«, beschreibt Rosa Finkelstein, eines der Opfer, später ihr Martyrium. Die Gesundheitsschädigungen der »behandelten« Frauen reichen von Blasenkrankheiten, Unterleibsabszessen und Verdauungsproblemen bis zu Unterleibskrebs.

Keine Stunde Null für Pharma-Unternehmen
Einige haben über ihrer Pein auch den Verstand verloren, wie die von dem Publizisten Ernst Klee im Vorwort seines Standardwerkes »Auschwitz - die NS-Medizin und ihre Opfer« beschriebene Frau. Bei einer polizeilichen Vernehmung konnte sie später nur noch zusammenhanglos von einem Dr. Clauberg und einem ihr angeblich in den Bauch eingesetzten lebendigen Kaninchen fabulieren - offenbar eine fehlgeschlagene Verarbeitung ihres Schicksals als menschliches Versuchskaninchen. Klee beginnt sein Werk mit dem Hinweis: »In diesem Buch genannte Mediziner haben nach eigener Aussage niemals gegen ärztliches Ethos verstoßen.«
Ebendies reklamierte Schering nach dem Krieg auch für Dr. Clauberg. Er habe sich »mit dem Thema Sterilisierung nach den damaligen ethisch-medizinischen Richtlinien« befasst und keine »verbrecherischen Handlungen« begangen. »Am Interesse eines pharmazeutischen Forschers an einer für Patientinnen operationslosen und damit u. U. komplikationsärmeren Sterilisierung allein kann noch kein Interesse an einer politisch intendierten Zwangssterilisation abgelesen werden (was in der heutigen Literatur so gut wie nie bedacht wird)«, befindet der Konzern und muss auch zu einem solchen Urteil kommen. Eine Stunde Null gab es nämlich für das Unternehmen ebenso wenig wie für den Rest der medizinischen Welt. Schering profitierte - mit freundlicher Unterstützung der Marshall-Plan-Gelder - weiterhin von Claubergs Forschungen auf hormonellem Gebiet. Hatte dieser in einem Brief behauptet, die ursprünglich zur Behandlung weiblicher Unfruchtbarkeit bestimmten Mittel »Progynon« und »Proluton« könnten auch den gegenteiligen Zweck erfüllen und Schwangerschaften verhindern, so verfolgte der Pharmariese den von Clauberg und seinen Kollegen eingeschlagenen Weg konsequent weiter und brachte 1961 schließlich die erste Verhütungspille in Europa heraus. Heute ist das Unternehmen Weltmarktführer auf diesem Gebiet. So gut die Pille den Finanzbuchhaltern schmeckte, so bitter stieß sie vielen Frauen auf. Das von Schering als »supersanft« vermarktete Präparat »Femovan« etwa erwies sich in seiner Wirkung als gar nicht so sanft. Die »niedrigst dosierte Antibabypille« führte bei vielen Konsumentinnen zu Herz-Kreislauf-Problemen. In England kam es sogar zu einem Todesfall: Eine 19-Jährige erlitt zunächst eine Venenthrombose, dann eine Lungenembolie und starb. Die bundesdeutschen Aufsichtsbehörden erhielten bis Ende 1989 119 Meldungen über solch thromboembolische Nebenwirkungen. Bei einem weiteren Fall, wo eine Frau nach der Einnahme des Verhütungsmittels einen Hirninfarkt erlitten hatte, machten Unternehmenssprecher ihren hohen Cholesterinspiegel für den Gehirnschlag verantwortlich, obwohl dieser nach der Absetzung der Pille sofort von 236 auf 176 sank und erhöhte Blutfettwerte eine bekannte Nebenwirkung von Kontrazeptiva sind. »Es gibt kein Medikament ohne Nebenwirkungen«, beschied der damalige Vorstandsvorsitzende Giuseppe Vita einem Vertreter des Schering-kritischen Netzwerkes SCHAN auf der Hauptversammlung im Jahr 1989.

Späte Einschränkung für die "Supersanfte"
Damit hat er zweifellos Recht. Der durch SCHAN aufgebaute öffentliche Druck bewog die Unternehmensleitung dann aber doch, den Endokrinologen Prof. Dr. Herbert Kuhl mit einem Gutachten über die Risiken und Nebenwirkungen von »Femovan« im Vergleich zu dem Präparat »Marvelon« zu beauftragen. Es räumte kräftig mit dem Mythos von der »niedrigst dosierten Antibabypille« auf. »Auch neue, extrem niedrig dosierte Gestagene (weibliches Keimdrüsenhormon) sind keine Wundersubstanzen (...), ihre starke orale Wirkung beruht in erster Linie auf ihrer langsamen Inaktivierung in der Leber und der dadurch verzögerten Ausscheidung, die - wie im Falle des Gestodens - eine für die geringe Dosis von 75 µg außergewöhnlich hohe Serumkonzentration zur Folge haben kann«, hieß es in dem Gutachten. Bei »Femovan« war diese vier- bis fünfmal höher als bei »Marvelon«. Schering bestritt die Ergebnisse und fertigte eine hauseigene »Null Problemo«-Untersuchung an. So dauerte es noch fast 10 Jahre, bis das »Bundesinstitut für Arzneien und Medizinprodukte« zögerlich an der Reißleine zog und es MedizinerInnen wenigstens untersagte, Erstanwenderinnen »Femovan« zu verschreiben.
Der Ruf der anderen »Supersanften«, »Triquilar« und »Yasmin«, steht dem von »Femovan« kaum nach. »Triquilar« lässt ebenso wie »Femovan« den Blutfettspiegel steigen, was Arterienverkalkung befördert und so das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle erhöht. Der Schering-Konzern bestritt dies und legte zum Beweis eine Studie des australischen Forschers Michael Briggs vor, die sich jedoch später als Fälschung erwies. »Für die von Schering beanspruchte Stoffwechselneutralität von »Triquilar« ergeben sich in der Literatur keine legitimierten Hinweise«, urteilte das arznei-telegramm deshalb und nennt kardiovaskuläre Komplikationen, Gebärmuttererkrankungen und Zystenbildungen als Nebenwirkungen. Auch bei »Yasmin« rät die Fachzeitschrift zu Zurückhaltung und führt die Gegenanzeigen »Kopf- und Brustschmerz«, »Übelkeit«, »Migräne« und »Depressionen« als Gründe auf.

Mittel gegen die "Bevölkerungsexplosion"
Die Pille hat die sexuelle Revolution mit ausgelöst, sie diente jedoch nicht nur zu einem selbstbestimmteren Liebesleben und zur Stärkung der Selbstständigkeit der Frau. Auch als Instrument zur Regulierung des Bevölkerungswachstums in der »Dritten Welt« war sie stets ein Mittel erster Wahl, woran finanzkräftige Organisationen wie John Rockefellers »Population Council« einen nicht unmaßgeblichen Anteil haben. »Wenn die Armen nicht genug zu essen haben, müssen es halt weniger werden«, lautete dabei die Devise. Die Bundesrepublik lässt sich die auswärtige Bevölkerungspolitik jährlich 50 Millionen Euro kosten. Deshalb hat sich der Berliner Pillenriese schon frühzeitig um gute Kontakte zu den verantwortlichen Ministerien bemüht, die sich immer wieder auszahlten. Kein anderes Unternehmen hat so viele Pillen-Packungen unter das Weltvolk gebracht, umsatzmäßig reichte das allerdings nur zu Platz 3. »Das liegt einfach daran, dass wir viel mit Familienplanungsorganisationen zusammenarbeiten und dann die Zykluspackungen zu geringen Kosten abgeben«, erläutete Schering-Sprecherin Klutz-Specht in dem 1992 erschienenen SCHAN-Buch »Schering - die Pille macht Macht« diese Geschäftspolitik.
Als eine solche politische Landschaftspflege verstand Bayer-Schering es sicherlich auch, im Oktober 2006 gemeinsam mit dem »Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (BMZ) die Tagung »International Dialog on Population and Sustainable Development« auszurichten. Außenpolitisch legten die Arzneihersteller eine ähnliche Aktivität an den Tag. Sie bauten beispielsweise über Jahre hinweg Beziehungen zum Gesundheitsministerium von Bangladesh auf, das sich infolgedessen bei der »Gesellschaft für technische Zusammenarbeit« (GTZ) erfolgreich für das Unternehmen stark machte. Bald pumpte Schering 600 000 Pillen in den »gigantischen Fruchtbarkeitsmarkt«. Die Bangladesher Frauen wussten allerdings noch gar nichts von ihrem Glück. Nach Recherchen des GTZ-Mitarbeiters vor Ort waren nur rund 15 Prozent der Angesprochenen bereit, empfängnisverhütende Mittel einzunehmen. Deshalb wollte er sich auch nicht als Pharma-Drücker betätigen und kündigte. »Es ist die schiere Perversion, weiter in diese Programme zu investieren, die nicht dazu beitragen, die Strukturen für die Mehrheit der unterdrückten Bauern und Frauen (...) zu verändern«, resümierte er.

Hormone für die Wechseljahre
Mit seinen Hormon-Präparaten deckt Schering noch viele weitere Gebiete der Frauenheilkunde ab. Ein besonders umstrittenes Gebiet ist dabei die Hormonersatztherapie für Frauen in den Wechseljahren. Was der Konzern »Menopausen-Management« nennt, nennen Pharma-KritikerInnen »die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen«. Die Autorin Petra Kolips hat ihr Buch über die Hormonmedikamente deshalb programmatisch »Weiblichkeit ist keine Krankheit« genannt. Für Schering und andere Anbieter solcher Hormonpräparate aber machen typische Wechseljahresbeschwerden wie Hitzewallungen und Schweißausbrüche einen Pharma-Einsatz unausweichlich. Auch kosmetische Gründe lassen einen Griff zu Hormonen angeraten erscheinen: Sie machen angeblich die Haut straffer.
Zudem nutzt das Unternehmen die Angst als Verkaufsargument. Angeblich beugen Hormone der Osteoporose vor und wirken präventiv gegen Demenz. Einige Untersuchungen belegen eher das Gegenteil: Danach steigern Hormone sogar das Risiko, an Demenz zu erkranken. »Ein riesiges, unkontrolliertes Experiment mit den Frauen« nennt das arznei-telegramm deshalb das »Menopausen-Management«. Bei vier Millionen Anwenderinnen in der Bundesrepublik schätzt eine Expertise die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle auf 3000 und die Zahl der Thrombosen auf 7000. Zudem erhöhen die Hormontherapien das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. MedizinerInnen mussten sogar eine Studie abbrechen, die beabsichtigte, das genauer zu ergründen, weil dieser Zusammenhang schon früh offen zu Tage trat und die ForscherInnen die Frauen nicht länger einer Gesundheitsgefährdung aussetzen wollten.
Über die Produktpalette von Schering fällt Ulrich Möbius vom arznei-telegramm im Vorwort des bereits zitierten SCHAN-Buches deshalb ein vernichtendes Urteil. »Das Symptom der Sorglosigkeit - um nicht zu sagen, das Syndrom ungezügelter Profitgier - zieht sich wie ein roter Faden durch die Pharmadivision von Schering«, schrieb der Pharmakologe. Jetzt zieht es sich durch die auch nicht gerade für große Bedächtigkeit bekannte Pillen-Abteilung von Bayer.

Lesenswert zum Thema sind:
Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 1997, 525 S., brosch., 14,90 EUR.
Josefa Wittenborg u.a.: Schering - Die Pille macht Macht. Berichte über die Geschäfte des Schering-Konzerns. Schmetterling-Verlag. Stuttgart 1992. 188 S., brosch., 11,80 EUR.
Aus diesen beiden Werken stammen auch die Zitate im Text.
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