Filterblasen zum Platzen bringen

Zwei Wochen sind junge AktivistInnen unterwegs, um Menschen zu fragen, in was für einem Land sie leben wollen

Rico hat die Schnauze voll. Er glaubt an nichts mehr, nur an sich selbst. Auf das Blatt, das man ihm gerade in die Hand gedrückt hat und auf das er schreiben soll, welche Hoffnungen er hat, was ihm wichtig ist und wie er sich die Zukunft vorstellt, schreibt er einmal quer »scheiße«. Gesellschaft scheiße, Deutschland scheiße, Merkel scheiße. Rico ist 47, gelernter Zimmermann, hat vor Jahren mal einen An- und Verkauf geleitet, danach versuchte er es mit einem eigenen Getränkemarkt. Nichts lief, dann wurde bei ihm eingebrochen. Pleite, aus, vorbei. Geholfen hat ihm damals keiner. In Chemnitz kennt jeder Pfandflaschen-Rico, so nennt er sich, wenn man ihn fragt, wie er heißt. Er hat eine eigene Facebook-Gruppe mit über 5000 Fans, die ihn für seine Punkigkeit feiern. Rico sagt, dass er 800 bis 1000 Euro mit dem Flaschensammeln verdient. Vom Staat erwartet er nichts und nimmt auch nichts. Vor Kurzem musste er 300 Euro für einen Krankenwagen bezahlen, weil er nicht versichert ist. Gesundheitsversorgung scheiße. Jetzt fällt ihm doch noch was ein, was er verändern würde: »Es sollte mehr Ärzte geben, die ohne Geld behandeln.«

Das Blatt, das Rico ausfüllen soll, ist ein Spiel. »Stadt-Land-Hoffnung« ist Teil des Projekts »Bus der Begegnungen«, einem sozialen Experiment. Ausgang ungewiss. Zwei Wochen lang wollen 20 junge Menschen, die sich bei verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagieren, durch Deutschland fahren und Menschen befragen, in was für einem Land sie eigentlich leben wollen (so viel vorab. Beste Antwort an Tag eins: »in keinem«). Dafür tuckern sie in einem 43 Jahre alten Doppeldecker-Omnibus mit Namen »Tanja« bei maximal 63 km/h (Mindestgeschwindigkeit auf Autobahnen) durch den Osten und Westen und zurück nach Berlin, wo sie gestartet sind. Um es sich und den Menschen einfacher zu machen, haben sie Spiele erfunden oder vorformulierte Fragen und Gedanken auf Kärtchen geschrieben, die die Leute miteinander ins Gespräch bringen sollen.

Shai Hoffmann hat sie alle zusammengebracht, früher Soapdarsteller, heute Sozialunternehmer und Aktivist. Ein irre engergiegeladener Typ, der jedem zuhört und dem jeder zuhört. Er studiert Menschen und mag sie trotzdem. Genau der richtige für diesen Trip. Die meisten, die mitfahren, hat er über Netzwerktreffen, Konferenzen und Vorträge kennengelernt. Sein Lebensstil ist ohne Social Media nicht denkbar. Auch die Idee für diese Tour entstand bei Facebook. Nachdem die AfD im letzten Jahr in jeden Landtag zog, der zur Wahl stand, postete Hoffmann ein Bild und schrieb dazu: »Leute, wir müssen durch dieses Land fahren.« Ein Jahr und eine Crowdfundingkampagne später, am Montag, den 4. September, sind sie tatsächlich auf dem Weg. Erste Station Chemnitz, danach geht es quer durch die Republik (eine Auswahl: Apolda, Weimar, Bielefeld, Kassel, Schwerin) und zurück nach Berlin. An diesem Wochenende wollen sie zurück sein. Auf der Strecke werden immer wieder Aktivisten zu-, andere aussteigen. Moder und Amir, ein Moslem und ein Jude, kochen zwei Wochen im Bus, der mit Spülmaschine, Kochplatte und Steinbackofen ausgestattet ist, für die Crew und für Leute, die sie spontan zum Essen einladen wollen.

»Uns ist klar, dass nicht alle Gespräche einfach und nett werden«, sagt Hoffmann. »Aber darum geht es ja: Wir wollen raus aus unserer Filterblase.« Die meisten Aktivisten waren noch nie in Chemnitz. Was die Menschen dort zuletzt gewählt haben, wer ihnen da möglicherweise begegnet, darauf hat sich niemand vorbereitet. »Wir wollen nicht die Hipster aus Berlin sein, die ankommen und den Leuten erklären, dass sie ab jetzt bitte tolerant und offen sein sollen. Die Experten sind ja die Leute vor Ort. Wir hören zu«, sagt Gemina Picht, die für die Offene Gesellschaft als Campaignerin arbeitet.

Said Haider sagt, dass er noch nie in Sachsen war und gibt zu, dass er Vorurteile hat. Er ist aus Hamburg und Vorsitzender vom Zahnrädernetzwerk, einem Verein, der engagierte Muslime vernetzt. Er denkt an Dresden, Freital, Heidenau. Später wird er fürs Videotagebuch, das ein mitreisendes Kamerateam für Facebook dreht, sagen, dass das wohl quatsch und die meisten seiner Gespräche völlig normal waren. Kommt drauf an, mit wem man sich unterhält.

Rico tourt inzwischen hoch. Er ist aufgestanden und umreißt mit seinen Armen, mit denen er wild herumfuchtelt, die Menge, der er gleich seine Botschaft verkünden will. Der ganze Platz vor dem Roten Turm soll es wissen: »Merkel auf den Scheiterhaufen«, schreit er und gleich ein zweites Mal hinterher, nur lauter. Inzwischen sitzen immer mehr Leute aus der Trinker- und Straßenszene vor dem Bus. Bis Rico loslegte, hatte damit niemand ein Problem. Allen zuhören, das war doch die Devise und die Botschaft. Rico lotet gerade die Grenzen aus. Es ist kurz nach 13 Uhr am ersten Tag der Tour. »Soll ich nun meine wahre Meinung sagen, oder soll ich sie nicht sagen?« Hoffmann merkt, dass es jetzt Zeit wird, die Situation in den Griff zu bekommen. Erste Leute stehen vom Nachbartisch auf und wollen gehen. »Rico, wir wollen Deine Meinung hören, aber Du musst sie ja nicht schreien«, sagt er, seine Stimme ist ruhig und fest. Rico setzt sich wieder hin, Hoffmann bringt ihm einen Kaffee. Den restlichen Tag lässt er sich immer wieder nachschenken, nimmt mittags das ägyptische Kuschari, ein Mischmasch aus Nudeln, Reis und Linsen, das ihm Moder aus dem Busfenster reicht, und grummelt leise vor sich hin.

Chemnitz, ein Traum in beigefarbenen Sandstein mit gepflegter, akribisch gekärcherter Innenstadt. 246 947 Einwohner, seit ein paar Jahren werden es wieder mehr statt weniger. Auf dem Marktplatz, umzingelt von Rathaus und drei monströsen Einkaufzentren, schlendern Rentner zwischen Blumenstand und mediterranen Spezialitäten hin und her, zwei Hunde kläffen sich an, weshalb sich alle umdrehen und minutenlang die kabbelnden Hunde beobachten. Die Menschen, die an diesem Vormittag unterwegs sind, tragen Jeanshosen, gut geschnitten, stonewashed, dazu karierte Kurzarmhemden, die sie freundlich aussehen lassen. Nirgends mehr die Jeansshorts-Männerhandtaschen-Kombination, Symbol des angenommenen Hinterwäldlertums, für das man die Ostdeutschen jahrelang bitterböse auslachte. Chemnitz - Stadt der Moderne. So heißt es ja auch auf der Homepage der Stadt. Aber in die Ecken muss man gucken. Mit 7,4 Prozent hat Chemnitz eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Sachsen (Stand August 2017) und vor ein paar Jahren schickten die Zeitungen ihre besten Schreiber hierher, um zu erkunden, wie es sich in einer Stadt lebt, die langsam ausstirbt, denn Chemnitz war bis vor einigen Jahren noch die älteste Stadt Deutschlands, ein Drittel ist über 60. Der Stadtrat gespalten zu gleichen Teilen in CDU und Linkspartei, in »alles gut so« und »nichts ist gut so«. Jörg*, 68 Jahre, Rentner im angesagten Chemnitzer Kurzarmkaro verrät Konstantin Welker, einem Aktivisten der Offenen Gesellschaft, der seit ein paar Minuten mit ihm im Gespräch ist, zwar nicht, was er wählt, lässt aber schnell durchblicken, dass ihn das Gejammer seiner Altersgenossen nervt. Seit über 20 Jahren lebt er in Chemnitz, wurde nach der Wende aus Schleswig-Holstein in den Osten geschickt, um die Buchhaltung in den großen und mittelständischen Betrieben fit für die D-Mark zu machen. Ein Wendegewinner, so nennt er sich. Obwohl das auch nicht ganz stimmt, denn Jörg ist seit zehn Jahren trockener Alkoholiker. Und er ist hart mit denen, die sich beschweren, dass in dem Land nichts funktioniere, denn er hat es auch geschafft vom Alkohol wegzukommen, und zwar allein. »Wem der Eintritt in der Stadthalle zu teuer ist, der muss sparen oder sich ehrenamtlich engagieren, dann kommt er mit der Danke-Card günstiger ins Theater oder Museum.« Mit der Politik sei er eigentlich ganz zufrieden, was Andreas nun überhaupt nicht von sich behaupten kann.

Shai Hoffmann hat den 47-Jährigen, der so schüchtern um den Bus herumschlich, angesprochen. Andreas hat gestern per Briefwahl abgestimmt und AfD gewählt. Aus Protest. Gegen »die Merkel«. Vor allem aber gegen die da oben, während er hier unten ist. Gerechter würde es mit der AfD zugehen, dachte er, der von einer kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente und dem Landesblindengeld lebt, das ihm vor ein paar Monaten auch noch gekürzt wurde. Andreas ist auf dem rechten Auge blind, mit dem linken sieht er jetzt wieder 50 Prozent. Nach einer Augen-OP ist das aber für das Amt, das sein Krankengeld berechnet, zu viel. Bei der letzten Bundestagswahl hat er die LINKE gewählt, hatte gehofft, für ihn, den »kleinen Mann«, würde sich was verbessern. Sahra Wagenknecht war ihm sympathisch, so wie jetzt Alice Weidel und Frauke Petry. »Nichts ist passiert mit der LINKEN, die sind ja Opposition und verändern nichts.« Auf die Linkspartei hört Merkel eh nicht, auf die AfD gerade ganz Deutschland. Mit der AfD sagt er, sei es wie beim Lotto, man macht ein Kreuz und weiß nicht, was am Ende bei rauskommt, aber vielleicht ist es ja der ganz große Gewinn. Hoffmann erzählt Andreas, dass seine Großeltern den Holocaust überlebt haben und dass es ihm Angst macht, was die AfD über Juden, Erinnerungskultur, das Zusammenleben und Geflüchtete sagt. Andreas, der am Anfang noch zwei Schritte zurückwich, wenn man auf ihn zuging, nimmt den Flyer vom Bus, den ihm Hoffmann in die Hand gedrückt hat, kommt näher und stupst ihn damit an. »Wissen Sie was, Shai, Sie sind ein feiner Kerl, hätten wir uns mal einen Tag eher getroffen.«

Am frühen Abend spricht Konstantin Welker fünf Menschen an, die sich in einem Stuhlkreis zusammensetzen. Keiner kennt den anderen, die Menschen sind zwischen 18 und 68 Jahre alt. Nach zehn Minuten beginnen die Leute über ihre Alkoholsucht zu sprechen, darüber, dass die Werbung sie in die Bulimie getrieben hat und dass sie all diese Probleme nicht gehabt hätten, wenn sie nicht ständig funktionieren müssten. Einer will, dass man die Alkoholiker auf dem Platz vor dem Roten Turm einmal danach fragen würde, warum sie hier sitzen. Er gehörte bis vor Kurzem auch dazu. Er hätte es wahnsinnig gerne jemandem erzählt. Welker, der die Runde moderiert, sagt hinterher, dass ihn das Verlangen der Leute, erzählen zu dürfen und gehört zu werden völlig überfordert hat. »Dass es so schnell so privat und so intim wurde, damit konnte ich nicht umgehen.«

Als es schon lange dunkel ist, prügeln sich zwei Jugendgruppen auf dem Platz. Es geht um zerbrochene Flaschen und darum, dass die anderen da immer mit den Mountainbikes abhängen, wo die Splitter jetzt liegen. Ein Junge kommt mit blauem Auge und blutender Nase auf den Bus zugelaufen, will Eis haben. Seine Kumpels kommen nach und erzählen, wer seit wann und warum hier das Sagen hat. Eigentlich wollte der »Bus der Begegnungen« gerade aufbrechen. *Name geändert

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