»Wir müssen radikaler denken«

Der Sozialforscher Gerhard Bosch über Löhne und Renten in Ost- und Westdeutschland

  • Lesedauer: 3 Min.

Der Bundestag hat in diesem Jahr beschlossen, dass ab 2025 Renten in Ost- und Westdeutschland gleich berechnet werden. Was halten Sie davon?

Ich finde es richtig, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung einheitliche Regeln und Bedingungen zu schaffen.

Die Löhne im Osten sind aber um die 20 Prozent niedriger als im Westen. Sollte man deshalb Ost-Gehälter bei der Rentenberechnung wie bisher aufwerten, damit die Menschen höhere Altersbezüge erhalten?

Wir haben in ganz Deutschland ein Lohnproblem, nämlich den enorm großen Niedriglohnsektor. Dieses Problem sollten wir direkt angehen anstatt zu versuchen, es über die Rentenpolitik für einige Menschen abzumildern.

In Ostdeutschland gibt es besonders viele Geringverdiener.

Ja. Es gibt aber auch in Norddeutschland mehr Geringverdiener als im Süden, und auch in Baden-Württemberg oder NRW gibt es Niedriglohnempfänger. Dieses Problem müssen wir gesamtdeutsch anpacken.

Wie?

Der Mindestlohn war ein erster wichtiger Schritt. Jetzt sollte die Politik die Tarifbindung erhöhen. Keine Partei hat hier wirklich überzeugende Ideen.

Was schlagen Sie vor?

Wir müssen radikaler denken. Die Große Koalition hat mit kleinen Änderungen versucht, die Tarifbindung zu erhöhen. Es ist zum Beispiel inzwischen etwas einfacher, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Das hat aber fast nichts gebracht. Die Arbeitgeberverbände können weiter verhindern, dass ein Tarifvertrag für eine ganze Branche gilt. Deshalb müssen wir über neue Wege nachdenken. Möglich wäre zum Beispiel, dass die Mindestlohnkommission mehr Rechte erhält: Wenn in einer Branche der Anteil der Niedriglohn-Beschäftigten besonders hoch ist, könnte die Kommission Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auffordern, Tarifverträge zu schließen. Passiert dies innerhalb eines Jahres nicht, könnte die Kommission Tarifverträge selbst erlassen.

Ein Tarifvertrag per Dekret: Erlaubt das Grundgesetz das?

Verfassungsrechtlich wäre das nicht unproblematisch, weil im Grundgesetz die Tarifautonomie festgeschrieben ist. Man könnte aber Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Zeit geben, das Niedriglohnproblem selbst zu lösen, etwa im Einzelhandel. Wenn ihnen das nicht gelingt, dann funktioniert dort die Tarifautonomie nicht. In jedem Fall sollten wir nicht resignieren. Wenn wir uns in der reichen Bundesrepublik mit dem Mindestlohn begnügen, ist die sozialdemokratische Idee am Ende. Dann haben wir uns von der Vorstellung verabschiedet, dass die Bürger fair am Wohlstand beteiligt werden.

In Österreich ist das Rentenniveau höher als hierzulande. Gibt es dort auch andere Lohnregelungen?

Ja. Dort sind Beschäftigte und Unternehmer Zwangsmitglieder in den Wirtschafts- und Arbeitnehmerkammern. Es gibt hierfür nur wenige Ausnahmen. Damit sind fast alle Firmen und Beschäftigte tarifgebunden.

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