Kurdischer Schritt ins Ungewisse

Große Mehrheit für Unabhängigkeit bei Volksentscheid in Nordirak erwartet

  • Oliver Eberhardt, Erbil
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Soldaten lachen. »Mal schauen?«, fragen sie, während sie den Eingang des Wahllokals in einem Wohnviertel von Erbil im Auge behalten. »Aber sicher doch; hier ist alles transparent«, sagt einer der Peschmerga, die heute, egal wo man sie auch antrifft, also überall, in frisch gewaschenen, sauber gebügelten Uniformen zum Dienst erschienen sind ...

Das war am Montag. Ab Mittag hatten sich überall vor den Wahllokalen lange Schlangen gebildet. Es ging um die Frage, ob die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (ARK) Unabhängigkeitsverhandlungen mit der irakischen Zentralregierung beginnen soll.

Nach offiziellen Angaben haben 72 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt; das Ergebnis soll am Donnerstag bekannt gegeben werden. Doch gemessen an der Stimmung wäre es ausgesprochen überraschend, wenn ein Nein herauskäme.

Abgestimmt wurde am Montag nicht nur in der Region selbst, sondern auch in Gebieten, die die Peschmerga in den vergangenen Monaten dem Islamischen Staat (IS) abgenommen haben, also vor allem im Umland von Mossul und in der Provinz Tikrit, die offiziell nicht zur ARK gehört, aber seit der Vertreibung des IS im Sommer 2015 von den Behörden der ARK kontrolliert wird.

Eine »Provokation« sei das, heißt es in einer Mitteilung des US-Außenministeriums; das Referendum werde das Verhältnis der Kurden zur irakischen Zentralregierung und zu den Nachbarländern deutlich verkomplizieren. So ließen die Türkei und auch Iran Truppen in den Grenzregionen aufmarschieren, Manöver durchführen; beide Staaten befürchten, dass das Referendum die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden im eigenen Land stärkt. Die türkische Regierung forderte Türken zur sofortigen Ausreise auf; zudem droht Präsident Recep Tayyip Erdogan damit, die Pipeline zu sperren, über die nahezu der gesamte Ölexport aus der ARK abgewickelt wird.

Die kurdische Regierung kritisiert dies als »Drohgebärden« und verweist hier in der Regionalhauptstadt Erbil darauf, dass mehr als 1200 türkische Unternehmen in der ARK tätig sind, die türkische Wirtschaft Milliardeneinbußen hinnehmen müsste, falls Erdogan ernst macht. »Die internationale Gemeinschaft muss endlich anerkennen, dass die Menschen ein Recht darauf haben, selbst zu entscheiden, in welchem Staat sie leben wollen«, sagt Ministerpräsident Necirvan Barsani, der Neffe von Präsident Masud Barsani. Man schütze alle Minderheiten, binde sie in Entscheidungsprozesse ein.

Doch die Transparenz, die Offenheit mit der den ausländischen Medien in Erbil begegnet wird, weicht sehr schnell, je näher man am Wahltag an jene Gebiete heran kommt, die nicht offiziell zur ARK gehören. In Tikrit stehen offiziell nur zwei Wahllokale für Medienbesuche offen; als am Abend die Stimmauszählung begonnen hat, feiern auf den Straßen Tausende, während sich viele, die einer Minderheit angehören, zurückgezogen haben. Eine zuverlässige Aussage darüber, wie hoch die Wahlbeteiligung bei Angehörigen von Minderheiten war, ist nicht möglich. In Stadtteilen mit turkmenischer und arabischer Mehrheit waren die Straßen rund um die Wahllokale leer, während dort, wo viele Kurden leben, eine Vielzahl von Menschen in kurdischer Tracht zu sehen war.

Vor allem in Tikrit ist die Zugehörigkeit zur ARK bei Nichtkurden sehr umstritten: Der Glaube, die ARK bringe mehr Stabilität und Wohlstand als ein Leben unter Kontrolle Bagdads, ist bei den Minderheiten verbreitet, ebenso aber auch die Sorge um das prekäre Gefüge an Orten wie Tikrit.

Als am Abend die Kurden feiern, sagen vor allem Turkmenen und sunnitische Araber, sie befürchteten, dass nationalistische, gewaltbereite Kurden die Euphorie nutzen könnten, um gegen Minderheiten vorzugehen. Und immer wieder wird die Sorge geäußert, die Gegner des Referendums in Bagdad und im Ausland könnten die Stimmung zum Kippen zu bringen. Bewahrheitet haben sich diese Bedenken bislang nicht.

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