Vom Leben, der Liebe - und dem Tod

Viktorija Tokarjewa meint: »Auch Miststücke können einem leidtun«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Jahrgang 1937 - Viktorija Tokarjewa sieht heute nicht mehr so aus wie auf dem Bild, das uns der Diogenes Verlag präsentiert. Dass sie sich selbst nicht so zeigen wollte, wie sie ist, man kann es sich eigentlich nicht denken, denn wie sie schreibt, das ist ganz ohne falsches Gehabe. Ja, man darf es ihr Markenzeichen nennen, wie unambitioniert, mit welcher Ruhe sie erzählt. Und dabei mit welcher Genauigkeit, scharf beobachtend und aus einer großen Lebensweisheit heraus urteilend. Nein, eigentlich urteilt sie nicht, sie schätzt etwas ein und hat dafür die Weisheit aus nunmehr fast 80 Lebensjahren zur Verfügung.

Hinzu kommt ihre Erfahrung als Drehbuchschreiberin: Aus allen neun Erzählungen dieses ihres neuen Bandes könnte man Filme machen. Es ist mindestens ihr fünfzehnter auf Deutsch; einige werden bei Amazon schon zu Schleuderpreisen verkauft. Wäre es nicht mal Zeit für eine Werkausgabe? So wie sie schreibt, könnte sie international hoch gehandelt werden, aber sie hat nicht das Umfeld einer Elena Ferrante oder einer Isabel Allende. Außerdem hat sie sich kleinen Erzählungen gewidmet und nicht großen Romanen, von denen Marketingexperten behaupten, dass sich daraus leichter Bestseller machen lassen. Auch hat sie beim Schreiben aus ihren Erzählungen jeden Beigeschmack des Sensationellen getilgt. Was zugespitzt werden könnte, das umhüllt sie mit ihrer Gelassenheit. Was, Ljuska, selbst dem Alkohol verfallen, hat einen Alkoholiker geheiratet und sogar ein Kind von ihm bekommen, und eines Tages sagt sie, ihr Mann sei tot, nur um Geld von der Nachbarin zu erpressen! Skandal! Aber: »Geld bedeutet Schutz«, zumal wenn Menschen sehr arm sind.

Viktorija Tokarjewa setzt auf Verbindendes und Verstehen in einer Wirklichkeit, in der das Gegeneinander und die Schuldzuweisung dominiert. Sie spielt im großen Aufregungstheater nicht mit, kann es auch deshalb nur zu minderer Berühmtheit bringen. Indes, liegt im Titel dieses Bandes nicht doch eine Polemik? »Auch Miststücke können einem leidtun«: Da werden viele ihr ein zorniges »Wieso?« entgegenschleudern. - Nun, das Rigorose hat ebenfalls einen berechtigten seinen Platz in der Welt. Aber diese Texte sind geschrieben, damit wir nachdenklich, damit wir geläutert werden.

Wie kommt eine Ärztin dazu, eine Mutter wissentlich anzulügen, ihr Kind habe einen Hirntumor? Muss man nicht den Stab brechen über jenen Drehbuchautor, der mit einer viel jüngeren Schauspielerin ein Kind zeugt und sie ebenso unglücklich macht wie seine Frau, von der er indes nicht lassen mag? Ein 70-Jähriger, noch rüstig, hat eine demente Frau zu Hause und erbittet von seinen Kindern die Erlaubnis, eine andere zu heiraten, die seine Tochter sein könnte, aber am Ende sehen wir, wie diese Junge die Alte füttert, denn der 70-Jährige ist in einem glücklichen Moment gestorben. So kann es kommen.

»Alles nicht so einfach«: Eine Ärztin erfährt bei einer spiritistischen Sitzung von ihrem verstorbenen Mann etwas Interessantes. »Die Seltsamkeiten der Liebe« (der Titel könnte ja über dem gesamten Band stehen): Außenstehende könnten meinen, dass ein Mann seine Frau nicht mehr lieben würde, weil er sie nicht zu Hause pflegen will, aber dann… »Warum nicht?«: »Diese Geschichte ist einer Freundin von mir vor dreißig Jahren passiert.« Verrückt und wirklich filmreif.

Tatsächlich, so erfährt man aus dem kleingedruckten Impressum, dass es die literarische Fassung eines Drehbuchs für »Usbekfilm« ist. Eine emanzipierte Frau, eine Wissenschaftlerin, wird durch eine Nachbarin in die Irre geführt, gerät in Verwirrung und in Abenteuer. Und es ist nicht unmöglich, dass sie am Ende etwas Wichtiges begreift.

Schließlich die einfachste Geschichte, die viel über die Stimmungslage dieses Bandes aussagt: In »Überflüssige Wahrheit« beobachtet die Ich-Erzählerin ihre Haushälterin, wie sie von den Steinpilzen nur die Stiele für die Suppe verwendet und sich die Hüte in den Mund steckt. »Ich war wie versteinert von Ninkas Dreistigkeit. Ich wollte Ninka sofort zur Schnecke machen, aber dann bremste ich mich gerade noch…« Warum? Es wird sinnfällig erklärt. Nichts zuspitzen, nichts Dunkles in sich ausbrüten, das Lichte siegen lassen. Sterben müssen alle sowieso.

Viktorija Tokarjewa: Auch Miststücke können einem leidtun. Erzählungen. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Diogenes. 299 S., geb., 22 €.

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