Aufräumen mit dem sowjetischen Erbe

In der Ukraine bleibt das Gedenken an die jüdischen Opfer der Nazis ein Streitpunkt, auch mit Blick auf Russland

  • Mathis Eckelmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Jahr 1961 notierte der ukrainische Dichter Jewgeni Jewtuschenko die Zeilen »Über Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal …«. Damals erinnerte nichts an jene, die in der Schlucht nahe der ukrainischen Hauptstadt zwanzig Jahre zuvor den Tod gefunden hatten. Kurz nachdem die Wehrmacht 1941 in Kiew einmarschiert war, wurde die Auslöschung der in der Stadt verbliebenen jüdischen Bevölkerung beschlossen. Am 29. und 30. September erschossen die Nazis und ihre ukrainischen Helfer 33.771 Menschen. Bis zum Kriegsende diente die Schlucht als Ort für Erschießungen. Opfer waren neben Jüdinnen und Juden auch Roma, Partisanen, Insassen der nahe gelegenen psychiatrischen Klinik und später Angehörige der in Ungnade gefallenen ukrainischen Nationalisten. Bis zur Befreiung der Stadt durch die Rote Armee fanden an diesem Ort etwa 100.000 Menschen einen gewaltsamen Tod.

Heute, 76 Jahre nach dem Massenmord, entbehren die Zeilen Jewtuschenkos nicht einer gewissen Ironie. Das Gelände, inzwischen ein beliebter Stadtpark, ist mit Gedenksteinen geradezu übersäht. 30 größere und kleinere Steine und Skulpturen erinnern an die von den Nazis ermordeten orthodoxen Priester, die Romaopfer des Porajmos, an sowjetische Zwangsarbeiter, aber auch an Angehörige der zeitweise selbst mit den Nazis kollaborierenden »Organisation Ukrainischer Nationalisten«. Obwohl die Frage nicht mehr lautet, ob, sondern an wen erinnert wird, bleibt Babyn Jar (russisch: Babi Yar) ein Ort vergangenheitspolitischer Kontroversen. Das zeigte sich vergangenes Jahr in den Vorbereitungen zu den Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des Massakers.

Stein des Anstoßes waren Formulierungen im Aufruf zu einem von der Regierung Poroschenko ausgelobten Wettbewerbs, die auf ein verallgemeinertes Gedenken abzielten und damit eine genuin jüdische Perspektive in Frage stellten. Die entsprechenden Passagen wurden nach der Kritik jüdischer Organisationen zwar überarbeitet. Bis heute existiert in dem Land, in dem während des zweiten Weltkriegs 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden, jedoch kein eigenes Museum, das an die Schoah erinnert.

Planungen dazu sind erst im vergangenen Jahr angelaufen, doch um das »Babi Yar Holocaust Memorial Center« sind hitzige Debatten entbrannt. Die Museumseröffnung ist für das Jahr 2021 geplant. Doch schon der Standort des Gebäudes ist umstritten, da sich auf dem dafür vorgesehenen Gelände einst ein jüdischer Friedhof befand. Jüdische Traditionen verbieten allerdings das Errichten von Gebäuden auf Grabstätten. Das ist nur eines von vielen Problemen. In einem offenen Brief kritisierten zuletzt unter anderem Mitarbeiter des »Ukrainian Center for Holocaust Studies« die einseitige Ausrichtung des geplanten Zentrums. Angesichts der unterschiedlichen Opfergruppen würde ein solcher Ansatz lediglich die ohnehin bestehende Opferkonkurrenz verstärken.

Auch spielt in der Debatte die Auseinandersetzung mit dem russischen Nachbarn eine Rolle. Neben anderen Politikern und Prominenten gehören auch die russisch-jüdischen Milliardäre Mikail Fridman und Pawel Fuks zum finanziellen Unterstützerkreis. Deren Beteiligung kritisierte im August dieses Jahres etwa der ukrainische Historiker Witalij Nachmanowytsch, der gleichsam auf das fehlende Engagement der ukrainischen Regierung hinwies. Die Diskussion zeigt, wie sehr sich der aktuelle Konflikt mit Russland in der Debatte widerspiegelt. Das dort propagierte Narrativ des »Großen Vaterländischen Krieges« dient heute auch als politisches Argument im Konflikt mit der Ukraine: Wo der Maidan als Wiedergeburt des Faschismus gilt, legitimieren sich russische Machtansprüche in Osteuropa. Nach wie vor basieren viele Gedenkstätten und Museen in der Ukraine auf diesem sowjetischen Narrativ, in dem nicht die Opfer im Zentrum stehen, sondern Heldenmut und Patriotismus. Für die Regierung Poroschenkos bietet sich in Babyn Jar in diesem Sinne auch die Möglichkeit, Geschichtspolitik im Sinne des ukrainischen Nationalverständnisses fortzuschreiben und mit dem sowjetischen und russischen Erbe aufzuräumen. Eine durchaus ambivalente Entwicklung, denn die Schoah war in der Erinnerung der Sowjetunion stets ein blinder Fleck geblieben.

Und auch die Toten von Babyn Jar verschwanden mit ihrer physischen Auslöschung zunächst aus dem offiziellen Gedächtnis. Man wollte den Blick nach vorne richten, das zerstörte Land wiederaufbauen. Das Leid der jüdischen Bevölkerung als etwas Spezifisches anzuerkennen, kratzte am Einheitsdenken des Sowjetstaates, während die zunehmend israelfeindliche Politik dem Antisemitismus einen fruchtbaren Nährboden bereitete. Obwohl in Babyn Jar seit 1966 wieder geduldete Gedenkmärsche stattfanden, sprachen offiziell Stellen lieber von »friedlichen Sowjetmenschen« als von jüdischen Opfern. Erst seit 1991 steht auf dem Gelände, in den vergangenen Jahren wiederholt Ziel von Anschlägen, eine Menora als ein eigenes an die jüdischen Opfer erinnerndes Mahnmal.

Ohnehin unberührt von all den Diskussionen bleibt die Lage der Überlebenden. Vor drei Jahren, darauf weist die »Jewish Claims Conference« hin, lebten noch 25 000 von ihnen in der Ukraine. Viele warten auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende vergeblich auf eine Entschädigung aus Deutschland.

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