Optimismus im Rahmen geltender Gesetze

Deutsch-russische Schau über die Merowingerzeit - Zusammenarbeit ohne »Beutekunst«-Streit

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 6 Min.
Rein optisch hat Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sich voll im Griff. Aber die Akustik ist tückisch und verrät mehr, als der Festredner von sich, seiner Bewegung und seinen Visionen preisgeben will: Teile einer spätgotischen Kapelle und die hohe Glasdecke im Italienischen Hof des Moskauer Puschkin-Museums erzeugen jenen leichten Nachhall, bei dem selbst hartgesottene Materialisten den Mantel der Geschichte rauschen hören. Einer Geschichte, die zugleich ferne Zukunft ist - oder es zumindest werden könnte. Wenn die Ausstellung, die am Montag eröffnet wurde, als Chance begriffen wird. Für einen gemeinsamen Kulturraum, der vom Atlantik bis zum Ural, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht. Für ein Europa ohne Grenzen. Eigentlich abgedroschene Superlative wie »Sensation« - Lehmann und die anderen VIPs gebrauchen das Wort mehrfach - wirken daher alles andere als deplatziert und sind eher Unter- denn Übertreibung.

Gold und Edelsteine
Obwohl in diesen Räumen schon mehr Gold glänzte und Edelsteine rar sind. Ein paar Lapislazuli und Almandin, eine rötlich-violette Unterart der Granate. Dazu reichlich Eisen. Kunstvoll verarbeitet, weil nördlich der Alpen auch im 5. Jahrhundert n. Chr. noch vom Hauch des Elitären umweht. Nur Adlige ziehen mit eisernen Rüstungen in die Schlachten, als über Europa die Götterdämmerung hereinbricht. In den Stürmen der Völkerwanderung, die ein halbes Jahrtausend zuvor in Innerasien begann, verschwinden ganze Völker von der Bildfläche, andere gehen aus der Verschmelzung alteingesessener Stämme mit den Einwanderern hervor. Auf den Trümmern des Römischen Reiches gründen sie die Vorläufer der heutigen Nationalstaaten. Ihre Kultur greift Motive der Spätantike auf, reichert sie mit frühchristlichen Elementen an und reflektiert oft auch die asiatische Vergangenheit. Manche Stücke haben verblüffende Ähnlichkeit mit der Kunst der Steppe und Südsibiriens, nur passen sich die Motive mittel- und westeuropäischen Realitäten an. Statt eines Leoparden reitet ein burgundischer König daher einen Wolf. Die Szene ziert einen massiven Goldring. Er sieht wie Halsschmuck aus, entspricht dem Gewicht nach jedoch römischen Münzen und war offenbar Zahlungsmittel. Der Fund stammt aus einem Grab bei Elbing im ehemaligen Ostpreußen, wird auf das 4. Jahrhundert datiert und gehört zu den ältesten Stücken der jetzt in Moskau eröffneten Ausstellung »Merowingerzeit - Europa ohne Grenzen«. Sie ist die bisher mit Abstand repräsentativste Schau, die eine breite Öffentlichkeit über die Völkerwanderung und ihre Protagonisten informiert: Hunnen, Goten, Alanen oder Bajuwaren.

Die Ausstellung - eine Großtat
Schon allein das ist eine Großtat von Wissenschaftlern und Museologen. Denn die Epoche ist grottenschlecht dokumentiert. So schlecht, dass vor der Analyse mit dem Kohlenstoff-Isotop C-14, das eine präzise Datierung archäologischer Funde ermöglicht, durchaus seriöse Forscher die Hypothese vertraten, in der dunklen Wendezeit zwischen Spätantike und frühem Mittelalter sei die Jahreszählung aus dem Takt gekommen und später um drei Jahrhunderte erweitert worden, die es nie gegeben hat. Immerhin entstand das althochdeutsche Hildebrandslied, das sich mit dem Drama auseinandersetzt, erst im 9. Jahrhundert. Selbst Teile der Vita von Karl dem Großen, der um 800 lebte, wären demzufolge eine Erfindung von Abschreibern in Klosterbibliotheken. In der Tat sind schon die Anfänge seiner Dynastie - der Karolinger - hoffnungslos von Legenden überwuchert. Noch dürftiger war bisher die Faktenlage zu den Vorgängern: den Merowingern. Ein Begriff, den selbst neueste PC-Programme als Rechtschreibfehler rot unterstreichen.
Vor allem ihren Königen gehörte, was ein hypermodernes Design effektvoll in Szene setzt. Hinter den Tafeln aus halbtransparentem satiniertem Glas, die geschichtliche Zusammenhänge und historische Landschaften knapp skizzieren, glaubt man, sie erahnen zu können: Die Träger der archaischen Schmuckstücke, von grüner Patina bedeckt, deren Entfernung sich die Restauratoren zum Glück verkniffen haben. Hilderich geht da um, Clothar und Ahnherr Merowech, der Herrscher der Sugambrer, eines westgermanischen Volkes, das rechts des Rheins zwischen Ruhr und Sieg lebte und dem Sauerland zu seinem heutigen Namen verhalf. Seine Nachfahren gründen Ende des 5. Jahrhunderts ein Reich, das mit dem heutigen Frankreich und Teilen von West- und Mitteldeutschland identisch ist. Schon im 8. Jahrhundert verlieren die Merowinger ihre reale Macht jedoch an ihre Verwaltungschefs: die Hausmeier aus dem Geschlecht der Karolinger, die sie 752 auch formell beerben.
Bis Mitte Mai ist die Ausstellung in Moskau zu sehen, dann in der Eremitage in St. Petersburg. In Deutschland nicht. Die Bundesrepublik, sagt Kulturstaatsminister Bernd Neumann mit zu Bronze erstarrtem Gesicht, könne nach geltendem Recht »kein freies Geleit zusichern«. Im Klartext: Deutschland müsste den Löwenanteil behalten. Denn rund 700 der insgesamt 1300 Stücke sind »Beutekunst« und gehörten bis 1945 dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte.
Das steht Schwarz auf Weiß auch unter den Exponaten und in dem vier Kilo schweren Hochglanzkatalog. Gleich neben der Rechtsauffassung Russland, das die Trophäen als Entschädigung für eigene Verluste im Zweiten Weltkrieg beansprucht. Völkerrechtswidrig, heißt es dazu bei deutschen Experten. Dass die Ausstellung trotzdem zustandekam, ist die zweite Sensation und für viele die eigentliche. Vier Jahre brauchte es von der Idee, die beide Seiten zunächst für undurchführbar erklärten, bis zur Realisierung. Die Zusammenarbeit beschreiben Deutsche wie Russen als »schwierig«. Auch wenn die Kuratoren inzwischen zu einem »fast freundschaftlichen Verhältnis« gefunden haben, wie Wilfried Menghin, der Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, sagt. Er und sein Deutsch sprechender Kollege Wladimir Tolstikow vom Moskauer Puschkin-Museum duzen sich mittlerweile sogar.

Die Geschichte Europas begreifen
Licht und Schatten liegen dennoch dicht beieinander. Es sei »absurd und sinnlos, wie die Sammlungen auseinandergerissen sind«, sagt Menghins Kustodin Marion Bertram. Mit den Augen liebkost sie, was nur auf Zeit zusammengefunden hat. Darunter die Weimarer »Runenfibeln« aus dem 6. Jahrhundert. Die Schließen selbst lagen bisher in Berlin, fünf der dazugehörigen Knöpfe mit altgermanischen Runen in Moskau. Dass die und was sonst noch in den »Merowinger«-Kisten war, den Krieg heil überstanden hatten, erfuhr Bertram, die sich seit 1980 mit der Epoche befasst, erst bei den Vorbereitungen für die Ausstellung. »Ein Stück Wegschließen und Geheimhaltung«, glaubt Kulturstaatsminister Neumann, »haben wir damit hinter uns gelassen.« Die Stücke seien Weltkulturerbe und müssten gezeigt werden. An der deutschen Rechtsauffassung ändere das jedoch nichts.
Auch Michail Schwydkoj, die Nummer zwei im russischen Kultusministerium, sprach von »besonders heikler Kunst, die jetzt den Weg zurück ins kulturelle Leben findet«. Ohne die Stücke aus der Merowingerzeit sei die Geschichte Europas nicht zu begreifen. Das sei wichtiger als aller Streit um die Eigentumsrechte. Den werde man kommenden Generationen überlassen müssen. Kultursoldat Schwydkoj, der sich heiklen Fragen stets mit einem Zitat entzieht, das alle Türen und Hintertüren offen lässt, bemühte diesmal den braven Kollegen Schwejk: Er sei Optimist. Im Rahmen geltender Gesetze.

»Merowingerzeit - Europa ohne Grenzen« - Archäologie und Geschichte des 5. bis 8. Jahrhunderts. Staatliches Puschkin-Museum Moskau, bis 14.5.; Staatliche Eremitage St. Petersburg, 20.6 - 16.8.
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