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»Die Hängepartie um die Unabhängigkeit geht weiter«

Katalonien-Experte Klaus-Jürgen Nagel über einen potenziellen Dialog zwischen der Regierung Kataloniens und Madrid

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Gewerkschaften haben für den 3. Oktober zum Generalstreik gerufen, um gegen die Polizeigewalt beim Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober zu protestieren. Ist dieser Generalstreik die nächste Etappe auf dem Weg zur Loslösung?
Der Begriff Generalstreik ist nicht ganz zutreffend. Es haben über die Gewerkschaften hinaus viele Organisationen zum Streik aufgerufen, es handelt sich im Kern um einen Bürgerprotest gegen die Polizeigewalt von Sonntag. Dem Runden Tisch, der diesen Protest organisiert, gehören auch zwei Unternehmerverbände an, 40 Organisationen angefangen von den Nachbarschaftsvereinen, es sind nicht nur die Gewerkschaften, die am Dienstag das ganze Land lahmlegen. Allerdings ist interessant, dass die katalanischen Ableger der großen spanischen Gewerkschaften UGT, der Arbeiterkommissionen CC.OO oder USO jetzt mitmachen, obwohl die spanischen Dachverbände dagegen sind.

Unter den Umständen der Polizeigewalt ist das vorläufige offizielle Ergebnis von 90 Prozent Zustimmung für die Unabhängigkeit bei einer Wahlbeteiligung von 42 Prozent bemerkenswert. Aber taugt es als Fundament für eine Abspaltung, wie das Präsident Carles Puigdemont meint? Er sagt, dass die Katalanen mit der Abstimmung »das Recht gewonnen« hätten, einen unabhängigen Staat zu gründen.
Das »Lustige« daran ist, dass diejenigen, die ein reguläres Unabhängigkeitsreferendum verhindert haben, sich danach hinstellen und sagen, halt: Es gab Unklarheiten, deswegen gibt es keine Basis für eine Unabhängigkeitserklärung. Das zu akzeptieren, hieße zu sagen, diejenigen, die die Macht haben, haben das Recht, ein klares Referendum zu verhindern, um es dann nicht anzuerkennen. Das ist demokratisch fragwürdig. Jeder Unabhängigkeitsbefürworter hätte sich über ein ungestörtes, paktiertes Referendum gefreut, dessen offener Ausgang allseitig verpflichtend anerkannt worden wäre.

Die Polizeigewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, sagen selbst jene, die die katalanische Regierung für das Festhalten am Referendum trotz Verbots durch das Verfassungsgericht kritisieren. Pedro Sánchez, Chef der Sozialisten (PSOE) forderte Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy von der rechten Volkspartei (PP) dazu auf, wieder in einen »Prozess der politischen Verhandlungen« mit der katalanischen Regierung zu treten. »Er muss verhandeln, verhandeln, verhandeln und ein Abkommen erzielen, das ist seine Verantwortung.« Sind Verhandlungen zwischen Madrid und Barcelona noch eine Option?
Gute Frage: Alle Seiten sagen zwar immer wieder, dass sie einen Dialog wollen, sogar Rajoy betont das immer wieder. Beim Dialoginhalt liegen sie Lichtjahre auseinander. Die spanische Seite will, überspitzt gesagt, über die Kompetenz zur Zulassung von Strandkiosken verhandeln, die katalanische Seite über das Wie eines Plebiszits über die Unabhängigkeit. Für die einen ist die Unabhängigkeitsoption von vornherein illegal, für die anderen das Selbstbestimmungsrecht unverhandelbar. Letzteres sehen über 70 Prozent der Katalanen so. Diese Positionen sind schwer zu vermitteln. Eine direkte Verhandlung Madrid/Barcelona sehe ich derzeit nicht, es bedürfte eines externen Mediators. Dafür zeigt sich die katalanische Seite offen, die spanische Seite inklusive der PSOE und der Ciudadanos (Bürger) nicht.

Würde eine Abwahl von Rajoy, der keine Mehrheit im Parlament hat, oder ein Rücktritt einen Weg zum Dialog eröffnen können? Podemos und selbst die PSOE haben eine neue Verfassung für Spanien als Ausweg öfters ins Spiel gebracht.
Schwierig zu sagen, aber eher nicht. Die einzige spanische Partei, die wirklich verhandeln will und das Recht auf Selbstbestimmung befürwortet, ist die linke Podemos (Wir können es). Aber als nur drittstärkste Kraft würde sie sich selbst im Falle einer neuen Koalitionsregierung kaum mit diesem Vorhaben durchsetzen. Die PSOE setzt sich nicht für das Selbstbestimmungsrecht ein und es ist nicht absehbar, dass sich das wegen der Eskalation von Sonntag grundlegend geändert hat.

Auch die EU hat alle Beteiligten aufgerufen, »sehr schnell« von der »Konfrontation zum Dialog« überzugehen. Ein Sprecher der EU-Kommission hob am Montag in Brüssel auch hervor: »Gewalt kann nie ein Instrument der Politik sein.« Kann die EU nach ihrer bisher sehr passiven Haltung noch etwas bewirken oder könnte Angela Merkel ihren konservativen Freund Rajoy zur Raison bringen?
Die EU könnte wirklich etwas bewegen. Die Frage ist, ob sie das will. Bisher hat sie sich offiziell zurückgehalten und damit de facto auf die Seite von Rajoy gestellt. Die EU hat sich bisher als ein reiner Staatenbund positioniert, als würde sie nur den Staaten Loyalität schulden, nicht aber den EU-Bürgern, dem europäischen Demos, dem auch die Katalanen angehören und wie es in der Theorie einem Grundgedanken der EU entspricht. Den Katalanen, die für die Unabhängigkeit sind, die allermeisten für die Unabhängigkeit in der EU, hat Brüssel bisher kein Augenmerk geschenkt. Einige kleine Anzeichen gibt es, dass sich das durch die Polizeigewalt am 1. Oktober ändern könnte. Aber ich fürchte, dass es noch härter kommen muss, bis die EU ihre Pseudoneutralität aufgibt. Aber wer sonst als die EU könnte vermitteln? Einige katalanische Priester haben sich in ihrer Besorgnis schon per Brief an den Papst gewandt ...

Und was ist mit Kanzlerin Angela Merkel, die ansonsten einen engen Draht zu Rajoy pflegt …
Merkel hat sich unter den europäischen Staatschefs mit am weitesten für Rajoy aus dem Fenster gelehnt. Merkel vertrat wie viele die Auffassung, dass es keine externen politischen Kosten verursachen würde, wenn Rajoy die Sache als innerspanische Angelegenheit auf seine Art und Weise regelte. Merkel und andere wollen ein starkes Spanien. Rajoy hat dies bisher versucht, umzusetzen. Bisher hatte das nicht gestört. Die harte Repression von Sonntag kann diese Auffassungen vom starken Spanien und keinen externen politischen Kosten vielleicht ins Wanken bringen.

Rechnen Sie in den nächsten Tagen mit einer weiteren Zuspitzung? Der Ausrufung der Unabhängigkeit Kataloniens oder die Aberkennung des Autonomiestatus durch die Regierung in Madrid, wie es der Artikel 155 erlauben würde, sofern sich eine parlamentarische Mehrheit dafür findet.
Die Wahrscheinlichkeit für eine weitere Zuspitzung ist hoch. Die katalanischen Gesetze über das Referendum und den Übergangsprozess wurden ja bereits im Sommer mit Mehrheit verabschiedet. Dieser Weg sieht vor, im Falle eines »Ja« zur Unabhängigkeit, sie auch zu erklären. Das wird in der einen oder anderen Form die kommenden Tage geschehen, entscheidend ist aber die Form. Denkbar ist, dass die Unabhängigkeit erklärt, aber ihre Ausrufung erst für einen späteren Termin vorgesehen wird, um Verhandlungszeitraum zu schaffen. Es spricht einiges für diese Variante. Die Unabhängigkeitsbewegung ist sich da nicht einig, einige wollen so schnell wie möglich die Ausrufung der Unabhängigkeit, das Schaffen von Fakten, die anderen plädieren für einen Aufschub, um ihn zu nutzen, international Unterstützer für ein unabhängiges Katalonien zu gewinnen. Bisher wird dieser Versuch ja vielerorts der Lächerlichkeit preisgegeben. In beiden Fällen ist mit einer Reaktion aus Madrid zu rechnen. Bereitschaft, sich auf Verhandlung und Mediation einzulassen, ist offenbar nicht vorhanden. Insofern ist der Artikel 155 durchaus eine Option, wie auch eine juristische Verfolgung gegen alle, die bei der Durchführung des Referendums beteiligt waren oder wie viele katalanischen Polizisten, sich der Gewaltausübung gegen die Bürger verweigert haben. Die Hängepartie um die Unabhängigkeit geht weiter.

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