Tragödien-Casting gegen Refugee-Klischees

Mohamad Al Attar und Omar Abusaada variieren »Iphigenie« im Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Tempelhof

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Stimme des Muezzins hallt über den Weiten des Tempelhofer Feldes, und Rahaf Salama, Marketingspezialistin und frisch gebackene »Iphigenie«-Schauspielerin aus Syrien, erleidet einen Blackout und kann die geprobte Szene plötzlich nicht spielen. Beide Ereignisse sind nicht kausal miteinander verknüpft. Der Muezzin ist nicht vom Regie- und Autorenduo Mohamad Al Attar und Omar Abusaada engagiert worden. Dass er genau jetzt zu hören ist, ist purer Zufall, seltsames Lokalkolorit im Berlin unserer Tage.

Salamas »verpatzter« Auftritt indessen ist genauso einstudiert, ist Teil eines inszenierten Castings, als das sich diese »Iphigenie«-Variation im Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Tempelhof im Rahmen der Spielzeiteröffnung der neuen »Volksbühne Berlin« entpuppt.

Salamas vorgebliches Scheitern ist einer der wenigen emotionalen Ausbrüche dieses formstrengen Abends. Eine Schauspielimprovisation zum Thema Selbstmord mit echtem Klappmesser aus echtem Flüchtlingslager in Libanon von Zeina El Abdullah, Architektin und Kampfsportlerin aus Damaskus, ist der zweite. Sie schiebt kurz den Schleier der Theaternormalität weg, den Abusaada und Al Attar, vor allem aber die als Leiterin des Castings agierende Schauspieltrainerin Reham Alkassar an diesem Abend so kräftig weben.

Dass sie an der Theaternormalität weben, hat natürlich Gründe. Die Künstler aus Syrien, aber auch ihr ebenfalls aus Syrien stammendes Laienensemble haben die Sonderstellung als Geflüchtete satt. Bajan Aljeratly, die aus Leipzig zur Gruppe stieß und einen Monolog aus Tschechows »Drei Schwestern« auf Deutsch beisteuert, will als Schauspielerin behandelt werden und nicht als Geflüchtete, die auch in der Sprache des Gastlandes performen kann. Andere haben es satt, ständig über ihre Fluchterfahrungen ausgefragt zu werden, und zu wissen, dass ihre Erzählungen meist nur auf die narrative Formel der »schrecklichen Fahrt mit dem Schlauchboot« reduziert werden.

Ensemble und Regieteam flüchten sich vor solchen Klischees in die Fiktion eines Castings. Dieses Setting ermöglicht, andere Geschichten zu erzählen. Über den Kindertraum, Schauspielerin zu werden. Über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Kussszene im Theater für eine Schauspielerin mit Kopftuch. Über verpatzte Studienabschlüsse in Damaskus oder Beirut. Über Liebesbeziehungen, die zerbrachen. Und nicht immer waren Flucht oder Krieg daran Schuld.

Die Konsequenz dieser »kleinen« Geschichten ist aber auch, dass sie im großen Rahmen des Theaters noch kleiner wirken, erst recht im Kontext der Selbstopferung der Iphigenie zugunsten des Kriegsglücks aller Griechen. Die Kluft zwischen den vorgestellten Biografiebruchstücken zum hohen Ton der Tragödie ist groß.

Zum Glück, natürlich, für diese neun jungen Frauen, die sich mutig der Kamera, dem Publikum und einem erneuten Ausfragen stellen. Wer mag so zynisch sein, jemandem ein Leben »auf der Höhe« einer Tragödie zu wünschen? Niemand, klar. Ernüchterung macht sich allerdings doch breit über diesen Theaterabend der Volksbühne, der so sehr damit beschäftigt ist, Klischees zu entkommen, dass er selbst an Kraft verliert.

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